Driftet Frankreich bei der Präsidentschaftswahl nach rechts?
Le Pen verzichtete zuletzt auf allzu radikale Thesen, will sogar die Ehe für alle erhalten
Bleibt Emmanuel Macron fünf weitere Jahre Präsident von Frankreich oder gelingt der Nationalistin Marine Le Pen der Wahlsieg ums höchste Staatsamt? Trotz eines Vorsprungs für den Amtsinhaber ist ein Rechtsruck in Paris nicht ausgeschlossen.
Von Rachel Boßmeyer und Michael Evers, dpa
Nach einem vom Ukraine-Krieg überschatteten Wahlkampf stimmt Frankreich an diesem Sonntag über sein künftiges Staatsoberhaupt und die grundlegende Ausrichtung der Politik der kommenden Jahre ab. Dem liberalen Präsidenten Emmanuel Macron, der sich um eine zweite Amtszeit bewirbt, steht als Herausforderin die Rechtsnationalistin Marine Le Pen in der Stichwahl gegenüber. Am Morgen um 8.00 Uhr öffneten die Wahllokale im Land, nachdem in einigen Überseegebieten wegen der Zeitverschiebung bereits am Samstag gewählt worden war.
Zwar sagten Umfragen zuletzt einen wachsenden Vorsprung für den Mitte-Politiker Macron voraus – dennoch wird ein Sieg der auch mit extrem rechten Forderungen antretenden Le Pen nicht gänzlich ausgeschlossen. Frankreich trifft damit eine Richtungswahl, die auch für Deutschland und Europa von übergeordneter Bedeutung ist.
Seit sich Macron und seine Kontrahentin vom Rassemblement National vor zwei Wochen in der ersten Runde für die Stichwahl qualifiziert und ihre zehn Mitbewerber*innen hinter sich gelassen haben, wurde in Frankreich politisch wie gesellschaftlich ordentlich Stimmung gemacht. Parteien, Vereine, Sportler und Kulturschaffende riefen dazu auf, einen Schutzwall gegen Rechts zu bilden. An einer solchen Mauer waren Le Pen und zuvor ihr Vater Jean-Marie bereits 2017 und 2002 in der Endrunde der Wahl gescheitert.
Doch die Bereitschaft, aus Prinzip gegen Le Pen zu stimmen, schrumpft. In der Wählerschaft herrscht nach einer turbulenten und krisengeprägten Amtszeit Macrons Unzufriedenheit. Gerade Linke fühlen sich durch Macrons zunehmenden Rechtskurs vor den Kopf gestossen und sind genervt, dass eine Wahlalternative zu seiner wirtschaftsliberalen Politik fehlt. Anhänger*innen des linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon, der in der ersten Wahlrunde als Drittplatzierter ausschied, hadern deshalb zwischen der Wahl Macrons, einer Enthaltung – oder gar keiner Stimmabgabe. Die klassischen Volksparteien, die Sozialisten und Republikaner, waren mit ihren Kandidatinnen krachend gescheitert und können Macron nur begrenzt zum Wahlsieg verhelfen.
Der Staatschef sah diese verzwickte Situation wohl nicht kommen. Siegessicher stieg Macron erst spät in den Wahlkampf ein. Gehetzt zwischen internationalen Gipfeln, bekamen die Französ*innen ihren Präsidenten zumeist nur im Fernsehen zu Gesicht. Le Pen hatte da bereits seit Monaten Wahlkampf an der Basis gemacht und war durch die Provinz gereist. Während Macron noch auf der Weltbühne versuchte, den Ukraine-Krieg zu verhindern, hörte Le Pen auf Marktplätzen den Landsleute mit ihren wachsenden Sorgen zu. Dabei präsentierte sie plakative Lösungen für die Kaufkraftprobleme – das Hauptthema des Wahlkampfs.
Was das Thema LGBTIQ-Rechte angeht: 2016 hatte sie noch erklärt, sie wolle die Ehe für alle abschaffen und durch verbessertes Lebenspartnerschaften ersetzen. Damals erzählte uns ein schwules Ehepaar aus Paris von seinen Auswanderungsplänen, sollte Le Pen gewinnen (MANNSCHAFT+).
Nun postete die Herausforderin von Macron ein Video auf Twitter, in dem sie einer Wählerin erklärte: «Ich werde den Franzosen keine Rechte nehmen: Die Ehe für alle ist und bleibt eine Selbstverständlichkeit, wenn ich zur Präsidentin der Republik gewählt werde.»
Den Kuschelkurs mit der Bevölkerung verwob die Tochter des rechtsextremen Parteigründers Jean-Marie mit ihrem strategischen Bemühen um Verharmlosung. Freundlich lächelnd verzichtete die 53-Jährige auf allzu radikale Thesen, versuchte sich und die Partei zu «entteufeln» und wählbar zu machen auch fernab des rechten Randes. Bewusst inszenierte sie sich dabei auch als Gegenbild eines Präsidenten, der Menschen abseits des Bildungsbürgertums scheinbar missachtet. Nach der ersten Wahlrunde aber riss Macron das Ruder herum, stürzte sich in den Strassenwahlkampf, und versuchte, den versäumten direkten Kontakt nachzuholen.
Sollte der 44-jährige Macron weitere fünf Jahre Präsident im Élyséepalast bleiben, können Deutschland und Europa weiter auf einen verlässlichen Partner bauen. Gerade angesichts des Ukraine-Kriegs und der geschlossenen westlichen Front gegen Russland ist dies von entscheidender Bedeutung. Bei einer Wahl Le Pens stünde der EU wohl ein Erdbeben von der Dimension des Brexits oder der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten bevor. Le Pen erklärte bereits, dass sie zu Deutschland auf Distanz gehen und die EU grundlegend umgestalten wolle. Russland machte sie Avancen für die Zeit nach dem Krieg.
In Frankreich selbst warten auf den Gewinner oder die Gewinnerin zahlreiche Baustellen. Macron will eine ganze Reihe von Projekten und aufgeschobenen Reformen abarbeiten: Rente, Gesundheitswesen, Schule, Klimakrise, Kaufkraft und die Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung. Mit Le Pen gäbe es hingegen eine Bevorzugung von Französ*innen vor Ausländer*innen in der Wohnpolitik und auf dem Arbeitsmarkt. Ein Sturm der Entrüstung und massiver Widerstand wären programmiert – aber auch Macron dürften bei einem Sieg angesichts der aufgestauten Frustration harte Jahre ins Haus stehen.
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