«Leute nutzen das Wort schwul negativ, um uns zu beschreiben»

Henning May (27), Sänger der Kölner Band AnnenMayKantereit, im Interview

Es sei ein schönes Gefühl, wenn jemand, der Schwule scheisse findet, das Album seiner Band nicht kauft, findet Frontmann Henning May. (Bild: Arne Müseler, www.arne-mueseler.com CC BY-SA 3.0 DE )
Es sei ein schönes Gefühl, wenn jemand, der Schwule scheisse findet, das Album seiner Band nicht kauft, findet Frontmann Henning May. (Bild: Arne Müseler, www.arne-mueseler.com CC BY-SA 3.0 DE )

Henning May (27) kann nicht nur singen, dass sich die Nackenhaare aufstellen, sondern dazu noch Klavier, Melodica, Akkordeon, Ukulele und Gitarre spielen. Der Frontmann der Kölner Band AnnenMayKantereit macht einem aber mindestens so viel Gänsehaut als politisch denkender und handelnder Mensch.

Henning May, wie schreibt man au­thentische Songs mit hohem Gänsehautfaktor? Also, über den Gänsehautfaktor weiss ich nicht so viel. Aber wenn man authentische Lieder schreiben will, muss man ehrlich zu sich selbst sein, ohne sich zu verstellen. Man muss sich selbst gegenüber Dinge artikulieren können. Und dann muss man gucken, was das in einem auslöst. Bei mir geht es viel um Quantität. Ich muss einfach ganz viel schreiben, damit mir ein paar Sätze gefallen. Und von diesen Sätzen aus arbeite ich weiter. Ich schreibe ehrliche Lieder für mich, aber nicht so sehr über mich.

Was hast du dir beim Song «Freitag» gedacht? Ein Kumpel meinte, der Text sei ein bisschen rassistisch: «Am Anfang in der Innenstadt fahren junge Männer Autos, die ihnen nicht gehören. Sie werden heute Nacht so oft auf die Familie schwören». Er wollte wissen, weshalb ich so über Türken reden würde. Da sagte ich zu ihm: «Sorry, aber das ist in deinem Kopf. Im Lied kommt es nicht vor. Ich denke dabei auch an Leute aus Bergheim mit meiner Hautfarbe, die viel ins Fitnessstudio gehen und Bock haben, mit einem dicken BMW durch die Innenstadt zu preschen, den sie sich nicht gekauft, sondern geleast haben. Wenn du dabei an junge Männer mit Migrationshintergrund denkst, dann ist das dein Rassismus in dir. Das hat nichts mit mir zu tun!»

Wie kommt es eigentlich zu solch rassistischen Klischees? Ich glaube, es hat etwas mit Filmen, TV-­Serien und Youtube-Videos zu tun. Im Tatort sind die bösen Drogenschmuggler oft nicht die weissen Kartoffeln, sondern die persische oder türkische Grossfamilie. Die fahren dann halt einen geleasten Mercedes. Und in Youtube-Videos begegnet man unheimlich vielen Männern wie Haftbefehl, Ufo oder Gringo. Die singen auf Deutsch mit einem Akzent und einem erkennbaren Migrationshintergrund darüber, wie geil sie Autos finden. Das ist ein Stereotyp, das sich verankert hat.

In welcher Stimmung hast du «Weisse Wand» geschrieben – ein Song, in dem der Satz «Flüchtlingskrise fühlt sich an wie Reichtagsbrand» vorkommt? Diese Zeile drückt eine ganz konkrete Angst aus. Nämlich die, dass wir in 30 Jahren über die Flüchtlingskrise so reden werden, wie man heute in Deutschland über den Reichstagsbrand redet: Die Rechten haben die Flüchtlingskrise so gut instrumentalisiert, dass sie dafür von vielen Seiten Sympathien bekommen. Das hat sie in die Lage versetzt, 25 % der Bevölkerung zu überzeugen. Diese kleine Gruppe ist aber so radikal, dass der grosse Rest sich nicht mehr traut, Widerstand auszuüben. Zum Beispiel wurde das Konzert von Feine Sahne Fischfilet auf der historischen Bauhaus-­Bühne in Dessau abgesagt aus Angst um das Weltkulturerbe. Die Polizei hat es nicht mehr unter Kontrolle, wenn so viele gewaltbereite Rechte kommen, um gegen eine linke Band zu demonstrieren. Daran sieht man, wie weit es schon gekommen ist.

Glaubst du, dass ein Teil der Rechts­radikalen noch zu retten ist? Ich kann natürlich nur mutmassen. Wer in Deutschland AfD wählt, wählt halt AfD, und damit ist man auch irgendwie verloren. Interessant an dem momentanen Diskurs finde ich, dass viele dazu aufrufen, die AfD nicht zu wählen. Aber was bringt das denn? Jeder, der diese Partei wählen will, wählt sie auch! Es gibt nicht viele Leute auf der Kippe, die man auf diese Weise überzeugen kann. Dagegen zu sein, ist immer sehr leicht.

Was könnte man denn sonst noch tun? Viel schwerer ist der andere Schritt: Zu sagen, wofür ich bin und welcher Gruppe ich mich zuordne. Was ist denn politisch? Ist es überhaupt richtig politisch, auf eine Demo zu gehen? Oder ist Politischsein eher, sich für parlamentarische Prozesse zu interessieren? Oder vielleicht auch mal zu einer Europawahl zu gehen? Vielleicht auch mal im Freundeskreis Wahlkampf für eine Partei zu machen? Es ist ein riesiger Wust geworden, in dem unglaublich viele Leute sich auf die Position verkrochen haben, zu sagen: «Die AfD ist scheisse. Ich gehöre zu den Guten». Das finde ich sehr schade.

Lebst du in einer Blase oder kennst du auch AfD-Wähler persönlich? Ich kenne Leute, die rechtes Gedankengut haben, persönlich, weil ich sehr fussballinteressiert bin. Ich habe Freunde, die aufgrund ihres Umfeldes und ihrer Sozialisation ein bisschen so denken. Es ist die Aufgabe des Freundeskreises, dieses Denken bei einem Kumpel Stück für Stück abzubauen, weil man ihn nicht fallen lassen will. Vielleicht ist er ja nur falsch gestartet. Natürlich lebe ich auch in einer Blase, aber da wir als Band uns in letzter Zeit über die sozialen Medien geäussert haben, schreiben uns viele Leute sehr negative Nachrichten.

In vielen Youtube-Kommentaren wird das Wort ‚schwul‘ in einem negativen Zusammenhang benutzt, um uns zu beschreiben

Was steht da drin? Unsere Haltung wird kritisiert und wir werden persönlich angegriffen. Viele Leute sind auch der Überzeugung, dass ich homo­sexuell sei und machen ihrem Unmut darüber Luft. Daran merke ich, dass meine Blase durchlässig wird. In vielen Youtube-­Kommentaren wird das Wort «schwul» in einem negativen Zusammenhang benutzt, um uns zu beschreiben. Das ist krass.

Reagierst du darauf? Nein, das bringt nichts. Ich finde, man sollte lieber eine Grundhaltung zeigen. Wenn man soziale Medien benutzt, könnte man zum Beispiel ein Video drehen, in dem eine Regenbogenflagge zu sehen ist. Damit macht man allen Menschen durch die Blume klar, dass jeder leben kann, wie er will. Einen Screenshot von den Hassnachrichten und -Posts zu machen, ist mir zu blöd. Damit gebe ich den Hatern eine Aufmerksamkeit, die sie gar nicht verdienen. Wir haben auf die letzte Seite unseres Albumbooklets vier Sätze geschrieben. Einer davon lautet: «Kein Platz für Homophobie und Sexismus!» Wir finden, dass man als weisser heterosexueller Mann an sich arbeiten und auch für andere Stellung beziehen muss.

Malte Huck, Severin Kantereit, HenningMay und Christopher Annen (v.l.n.r../ Foto: Promo)
Malte Huck, Severin Kantereit, HenningMay und Christopher Annen (v.l.n.r../ Foto: Promo)

Warum schreibt ihr darüber keine Lieder? Wir haben das ins Booklet geschrieben, weil es sich in Liedform nicht leicht verarbeiten lässt. Wir haben es zumindest nicht geschafft. Es ist trotzdem ein schönes Gefühl, dass jemand, der Schwule scheisse findet, nicht dieses Album kauft. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass solche Leute das Wort «Homophobie» gar nicht kennen. Vielleicht hätten wir lieber «schwul sein ist cool» draufschreiben sollen.

Habt ihr deshalb euer Label «Irrsinn Tonträger» genannt? Irrsinn Tonträger hat unser Manager mit uns zusammen gegründet. Der Name ist ganz klar auf diesen Wahnsinn bezogen. Das Ganze hat mehr mit Irren als mit Wahn zu tun hat. Wir waren jetzt noch einmal in Istanbul, um dort ein Konzert zu geben. Eigentlich sollten wir vor 100 Leuten spielen, aber es kamen 2500 und die Polizei hat die Strasse abgesperrt. Absoluter Irrsinn! Keiner weiss, wieso so viele da unten unsere Musik hören. Aber das ist eben so.

Kann man als deutsche Band spontan in Istanbul auftreten? Das haben wir gerade bewiesen. Sie können sich nicht vorstellen, wie dankbar die Leute waren und was für Nachrichten wir gekriegt haben. Die Leute im alternativen Viertel Kadıköy erzählten uns eigentlich alle das gleiche: Dass keine internationale Band mehr Bock hat, in Istanbul zu spielen. Die haben Angst vor Terror, vor Erdogan, vor einer aggressiven Stimmung, vor dem Islam. Ich glaube, das ist eine viel zu gross gedachte Angst. Die jungen Leute dort hoffen jetzt, dass unser Konzert ein erster Schritt war, dass wieder mehr Bands zu ihnen kommen.

Und wie war es für dich persönlich? Für uns war es auch krass. Ich sitze da und denke: Hey, warum funktioniert Wikipedia nicht? Der türkische Staat hat die Seite einfach gesperrt. Auch die Tagesschau-App funktioniert nicht, aber man kann die Sendung online finden. Daran merkt man, wie der türkische Staat versucht, die Blase noch enger zu machen. Istanbul war für uns eine Schwarz-Weiss-Erfahrung. Es gibt dort unheimlich liebe und offene Menschen, aber auf der anderen Seite habe ich auch Männer getroffen, die mich im Vorbeigehen auf Türkisch beleidigten, weil ich längere Haare habe.

Haben die Konzertbesucher eure Botschaft verstanden? Ich hatte mir natürlich ein paar türkische Sätze zurechtlegt, aber die konnten fast alle unsere Texte lautmalerisch mitsingen, was uns ziemlich verwirrte. Irgendwann sagte ich auf Türkisch, dass der Sultan – also Erdogan – nicht in Kadıköy lebt. In Kadıköy lebt nur die freie Liebe. Da sind die total ausgerastet. Ich sagte auch, dass wir wiederkommen und Freunde mitbringen werden. So was habe ich noch nie erlebt, auch wenn sich in Deutschland viele für unsere Musik begeistern. Als ich von der Bühne runter wollte, haben mich Männer und Frauen geküsst – im wahrsten Sinne des Wortes. Das war super weird. Sie legten mir sogar die Hand auf! Es war eine richtige Justin-Bieber-Erfahrung. Nach dem Auftritt mussten wir bis drei Uhr nachts warten, bis wir aus dem kleinen Club rauskamen, weil davor so viele Leute standen.

 

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