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Andy Bell von Erasure wird 60: «In den 80ern war London ein rauer Ort»

Neben Boy George oder Bronski Beat zählte der Erasure-Sänger zu den ersten Popstars, die offen mit ihrer Homosexualität umgingen

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Andy Bell auf der Bühne in Delamere Forest 2011. (Bild: Andrew Hurley, CC BY-SA 2.0 Deed)

Als eine Hälfte des Popduos Erasure wurde Andy Bell beinahe über Nacht zum Star. Der Sänger mit den auffälligen Bühnenoutfits musste seinen Job erst lernen und erfand dafür eine Kunstfigur.

Von Philip Dethlefs, dpa

Wenn Andy Bell auf der Bühne steht, dann trägt er häufig schillernde Outfits. Der Erasure-Sänger tritt mal im hautengen Catsuit auf, mal in glitzernden Hotpants oder mit rosafarbenem Cowboy-Hut und bunter Federboa. Auch mit steigendem Alter fällt Bell, der am 25. April 60 Jahre alt wird, gern auf, aber nur bei Konzerten. «Andy Bell ist eine Figur, die ich von Anfang an entwickelt habe», sagte er dem Mirror. «Aber das ist nicht mein wahres Ich. Nur auf der Bühne bin ich Andy Bell. Zu Hause laufe ich nicht in Hotpants herum.»

Unzählige Ohrwurm-Hits mit Erasure
In den 1980er- und 1990er Jahren waren Erasure mit Synthiepop-Ohrwürmern wie «Sometimes», «A Little Respect» oder «Always» Dauergäste in den internationalen Hitparaden. Frontmann Andy Bell erwies sich mit seiner Falsettstimme als kongenialer Partner für den Keyboarder und Soundtüftler Vince Clarke. Der hatte zuvor schon mit Depeche Mode, The Assembly und Yazoo Erfolge gefeiert – und Bell war sein Fan. Als er auf eine Anzeige – «Etablierter Songwriter sucht vielseitigen Sänger» – antwortete, hatte er keinen Schimmer, dass es sich um eins seiner Idole handeln würde.


Als er erfuhr, dass er Clarke vorsingen würde, sei er ausser sich vor Freude gewesen, sagte Bell im Yahoo!-Interview. Dass er sich gegen rund 50 andere Kandidat*innen durchsetzen konnte und den Job bekam, erstaunt ihn immer noch. «Ich kann nicht glauben, wie dreist ich war, wirklich, mein Selbstvertrauen, denn wenn ich jetzt die Demobänder von diesem Vorsingen höre, dann wirken die so naiv.» Doch Clarke war sofort begeistert von dem 20-Jährigen. «Andy hatte und hat eine sehr markante Stimme und ich wollte jemanden, der die Songs mit Gefühl singen kann. Es hat sofort gepasst.»


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Vom Schuhverkäufer plötzlich zum Popstar
Bell hatte schon in einigen Bands gesungen, war aber bis dato kein professioneller Musiker oder Performer. Vor seiner Popkarriere hatte er sich in London als Schuhverkäufer verdingt. «Am Anfang wusste ich wirklich nicht, was ich auf der Bühne machen sollte», sagte der anfangs unauffällige, fast schüchterne Frontmann, der seinen neuen Job erst noch lernen musste. «Ich dachte mir: Das ist noch nicht besonders gut, ich muss meine Performance etwas aufpeppen. Also habe ich einfach diese Figur entwickelt, die die Leute heute kennen.»


Seinem Geburtsort, dem dörflichen Dogsthorpe/Peterborough, war Andrew Ivan Bell mit einer Freundin entflohen und nach London gezogen. Im damals noch sehr konservativen England war es selbst in der vermeintlich mondänen Hauptstadt nicht einfach als offen schwuler Mann. «London war in den 80er Jahren ein ziemlich rauer Ort», erzählte er in einem Interview. «Es gab Skinhead-Gruppen, die dich in der U-Bahn gejagt haben, man musste immer wachsam sein.»

Ikone der LGBTIQ-Bewegung
Bell zählte neben Boy George, Bronski Beat oder Frankie Goes to Hollywood zu den ersten Popstars, die offen mit ihrer Homosexualität umgingen. «Es gab eine schwule Welle in der Musik. Und ausserdem lüge ich nicht gern», erinnerte er sich. «Wenn mich jemand fragt: Wer ist deine Freundin, auf welche Art von Mädchen stehst du? Dann sage ich: Tatsächlich mag ich Jungs.»

Bell gilt heute als Ikone der LGBTIQ-Bewegung, für die er sich seit jeher engagiert. «Es gab riesige politische Kundgebungen. Wir haben Fortschritte gemacht. Wir haben viel erreicht, aber wir hatten auch viel Kameradschaft und haben aufeinander aufgepasst.»

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Andy Bell mit seinem Bandkollegen Vince Clarke. (Bild: Nancy J Price, CC BY-SA 3.0)

Das Thema Aids und das Bewusstsein dafür liegen Bell, der mit seinem US-amerikanischen Ehemann Stephen abwechselnd in Miami und London lebt, besonders am Herzen. 1998 erhielt der Sänger selbst die Diagnose, HIV-positiv zu sein. 2004 ging er damit an die Öffentlichkeit. «Ich war wirklich beeindruckt, wie das lief», sagte er. «Wir haben mit Erasure ein Konzert in London gegeben, und das ganze Publikum stand auf und klatschte, als wir die Bühne betraten. Es war, als hätte ich einen Oscar gewonnen oder sowas.»

Musikalisch auch solo unterwegs
In ihrer knapp 30-jährigen Karriere waren Erasure äusserst fleissig. 19 Studioalbem hat das Duo bisher veröffentlicht. Das bislang letzte, «Day-Glo (Based On A True Story)» erschien im August 2022. Im vergangenen November verriet Clarke, er wolle demnächst mit der Arbeit an der nächsten Scheibe beginnen (MANNSCHAFT berichtete). «Ich konzentriere mich so langsam voll darauf», sagte er der Deutschen Presse-Agentur in London und kündigte an, sich bald mit seinem Bandkollegen zusammenzusetzen.


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Bell tritt nebenher auch immer wieder allein bei Festivals und anderen Events auf, wobei er fast ausschliesslich Erasure-Songs singt. Zuletzt sorgte er damit ausnahmsweise für Negativschlagzeilen. Die Organisatoren eines Festivals in Oxfordshire entschuldigten sich für seinen «unterdurchschnittlichen» Auftritt. Festivalbesucher*innen hatten zuvor in sozialen Medien Clips gepostet, in denen Bell die Töne nicht trifft und das Mikrofon fallen lässt. Andere verteidigten den Sänger. «Jeder hat mal einen schlechten Tag», schrieb ein Fan. Bell äusserte sich nicht dazu. Für Juni sind Auftritte in den USA geplant.

Kein Problem mit dem Altwerden
Dass er mit 60 nun zur älteren Garde der Popstars gehört, stört Andy Bell nicht, im Gegenteil. «Ich habe immer zu den älteren Leuten aufgeschaut und sie bewundert. Und wenn man sich Debbie Harry und Mick Jagger und Elton John anschaut, dann denke ich, dass es noch viel gibt, auf das ich mich freuen kann», sagte er. Rückblickend äusserte er sich im Guardian-Interview zufrieden damit, wie sein Leben bisher verlaufen ist. «Ich glaube, ich hatte wirklich Glück. Ich bin einfach froh, dass ich Vince getroffen habe und bei ihm geblieben bin.»

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