Mit Weihnachtsgans-Boykott Viktor Orbán eins auswischen?
Das Fest der Liebe gibt Anlass zu ökonomischen Überlegungen
Fast alle nach Deutschland importierten Weihnachtsgänse stammen ausgerechnet aus Ungarn oder Polen. Können wir mit einem Boykott zum Fest der Liebe diesen homophoben Regierungen eins auswischen?
Vor allem in Deutschland gilt die gebratene Weihnachtsgans als traditionelles Festtagsmenü. Kaum ein Fünftel des dort verkauften Gänsefleisches stammt jedoch aus heimischer Schlachtung. Fast alle Importe wiederum – nämlich 97 Prozent – kommen gemäss dpa aus Polen oder Ungarn und damit ausgerechnet aus den beiden Ländern mit den wohl homophobsten Regierungen Europas.
Bundestagsabgeordnete Tessa Ganserer (Grüne) schrieb in ihrem Samstagskommentar, dass man bei Wirtschaftsbeziehungen den Hebel ansetzen könnte. «Wir müssen jetzt auf die Unternehmen einwirken, dass diese Verantwortung übernehmen und die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zur Voraussetzung für Handel und Investitionen in Ungarn machen», schrieb Ganserer.
Übernehmen Firmen Verantwortung? MANNSCHAFT wollte von den beiden Discounterunternehmen Lidl und Aldi wissen, ob sie schon in Erwägung gezogen hätten, Produzent*innen aus Polen und Ungarn aufgrund der dortigen Situation für die LGBTIQ-Community – entgegen wirtschaftlichen Vorteilen – mit einheimischen Produzent*innen zu ersetzen. Und ob sie befürchten, dass es vermehrt zu Boykott-Überlegungen kommen könnte.
«Lidl in Deutschland ist ein weltoffenes Unternehmen, das allen Mitarbeitenden – unabhängig von Alter, kultureller und sozialer Herkunft, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung, geschlechtlicher Identität, Weltanschauung oder Behinderung – Respekt entgegenbringt. Daher haben wir bereits 2008 unter anderem die Charta der Vielfalt unterzeichnet», antwortet uns das Unternehmen mit Hauptsitz in Neckarsulm. «Bei unseren Einkaufsentscheidungen stützen wir uns vor allem auf die Kompetenz der Erzeugenden und die Qualität ihrer Produkte.»
Ähnlich klingt es bei Aldi Süd. Die Wertschätzung von Vielfalt gehöre zu den wichtigsten Prinzipien der Unternehmensgruppe. «Aldi Süd heisst alle Menschen willkommen – unabhängig von Geschlecht, Alter, Religion, sozialer oder nationaler Herkunft, Staatsangehörigkeit oder sexueller Orientierung.»
Zu den polnischen und ungarischen Gänsen heisst es: «Wo immer möglich, versuchen wir, Produkte direkt aus der Region zu beziehen. Sollte dies nicht möglich sein, greifen wir auf Lieferanten im Ausland zurück. Wir verpflichten uns selbst und unsere Geschäftspartner entlang der Lieferkette zur Einhaltung sozialer Standards sowie aller Gesetze und Auflagen. Massgeblich für die Zusammenarbeit mit unseren Lieferanten sind die Aldi Süd CR-Grundsätze sowie die Sozialstandards in der Produktion.»
Bisher kein Einfluss auf Handel Diese letzten Bemerkungen beziehen sich freilich auf den Produktionsbetrieb selbst – und nicht auf das Land, in dem er steht. Generell scheinen die negativen Schlagzeilen der rechtsradikalen Machthaber in Polen und Ungarn bisher keinen Einfluss auf den internationalen Handel zu haben. Ein Blick in die Schweiz etwa zeigt, dass vor allem Polen weiterhin als wichtiger Handelspartner gilt. Seit 2008 wächst die Handelsbilanz zwischen den beiden Ländern stetig, wie Swissinfo.ch schreibt.
Bei den polnischen Exporten in die Schweiz entfällt der grösste Anteil auf Industrieerzeugnisse, Apparatur und Elektronik, Fahrzeuge, Möbel, Metalle und Metallerzeugnisse, Textilien, Bekleidung und Schuhe. Die Schweiz wiederum exportiert vor allem pharmazeutische und chemische Erzeugnisse, Maschinen sowie Präzisionsinstrumente und Uhren.
Träfe es die Falschen? Doch zurück zu den Weihnachtsgänsen und zu denjenigen, die in diesem Prozess letztlich die meiste Macht haben: den Konsument*innen. Mit Konsumentenboykotts haben die Verbraucher*innen ein Mittel in der Hand, um das Verhalten der Unternehmen zu ändern. Viktor Orbán in Ungarn und die PiS-Partei in Polen sind zur Festigung ihrer Macht wiederum dringend auf wirtschaftlichen Erfolg angewiesen.
Dass eine schwache Wirtschaft selbst den gefestigtsten Machthaber gefährden kann, erfuhr kürzlich Recep Tayyip Erdoğan. Die türkische Lira erlebte jüngst eine massive Inflation. Als Folge davon lag Erdoğans AKP in einer Umfrage von Anfang Dezember erstmals seit 18 Jahren mit nur noch 24 Prozent Stimmenanteil hinter der grössten Oppositionspartei, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland mitteilte.
Nutzen wir also das Fest der Liebe, um mit einem Boykott von polnischen und ungarischen Produkten indirekt die LGBTIQ-Community zu unterstützen? Dass man damit nur «indirekt» hilft, ist allerdings ein genereller Kritikpunkt am Boykott als politisches Druckmittel.
So verteidigt denn auch Lidl die anhaltenden Geschäftsbeziehungen nach Ungarn und Polen: Boykottmassnahmen würden in erster Linie den Erzeugenden und Produzierenden schaden. «Wir setzen auf Wandel durch Zusammenarbeit und Dialog und hoffen, die gesellschaftliche Diskussion zu diesem Thema in den kommenden Jahren mitgestalten zu können.»
«Es gibt andere Wege» Völlig unbefangen und objektiv können eigentlich nur LGBTIQ-Organisationen über die Weihnachtsgans-Frage urteilen. Wünscht sich etwa die polnische Community diesen indirekten wirtschaftlichen Druck auf die PiS-Partei? MANNSCHAFT hat bei der internationalen LGBTIQ-Organisation ILGA-Europe, die enge Beziehungen zur polnischen Campaign Against Homophobia (KPH) pflegt, nachgefragt.
Polen und Ungarn seien zwar mittlerweile leider bekannt für ihre homophoben Regierungen. Gleichzeitig seien diese Länder jedoch auch das Zuhause einer grossen LGBTIQ-Community, die versucht, in einem zunehmend schwieriger werdenden Kontext ihr Leben zu leben. «Es gibt andere Wege, den dortigen LGBTIQ-Menschen zu helfen als ein Boykottaufruf», sagt Katrin Hugendubel, Advocacy Director bei ILGA-Europe.
Internationale Unterstützer*innen könnten beispielsweise mit Briefen und Petitionen ihre Regierungen auf die Situation aufmerksam machen und dafür sorgen, dass solche Themen auf der politischen Agenda bleiben.
Oder du kannst die Community ganz einfach mit einer Spende unterstützen. Für Polen ist das beispielsweise hier bei der Equaversity Foundation möglich.
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