Verwechselt den ESC nicht mit der Pride Parade!
Der Eurovision Song Contest war nicht immer ein queeres Festival
Douze points – zwölf Punkte: Das ist der Traum aller Teilnehmer*innen des Eurovision Song Contests. Wer auf der Bühne steht, darf in diesem Jahr aber keine Pride-Flaggen mehr schwenken. Dazu der Kommentar*
Der Eurovision Song Contest ist – ganz ähnlich wie die Europäische Union – ein Projekt, bei dem verschiedene Nationen auf Augenhöhe zusammenkommen. Das schliesst natürlich eine Menge Toleranz gegenüber kulturellen und politischen Unterschieden mit ein und braucht gewisse Regeln, damit alle miteinander auch nach einem Wettbewerb noch in die Augen schauen können. Seit einiger Zeit aber geht es bei dem Festival vor allem um Ausschluss und Abgrenzung, und das ist schade.
Da ist zum Beispiel Nemo. Nemo hat den Eurovision Song Contest (ESC) 2024 gewonnen und hat sich kürzlich bei einem Interview in der Huffington Post ziemlich aufgeregt: Der Schweizer Act hat nicht nur gefordert, dass ein anderes Land vom ESC ausgeschlossen werden sollte, sondern sich gleichzeitig über die Flaggenregeln empört. Nemo missfiel, dass man keine Regenbogenflaggen auf der Bühne zeigen dürfe: «Das ist so dumm. Du kannst nicht für queere Sichtbarkeit stehen und gleichzeitig Pride-Flaggen verbieten.» (MANNSCHAFT berichtete)
Dazu möchte man sagen: Moment, wahrscheinlich geht genau das sehr gut! Queere Sichtbarkeit ohne Regenbogen – das zeigen Teilnehmer*innen seit Jahrzehnten beim ESC schon sehr gut. Allein in den vergangenen 10 Jahren gab es fast 50 offen queere Teilnehmer*innen und fünf queere Gastgeber, darunter im Jahr 2021 eine trans Person. Zudem ist das auch das umgekehrte Argument, eine Flagge beweise Queerfreundlichkeit, eher schwach: Gerade jetzt ist zu erleben, wie viele Unternehmen die Flagge schnell verschwinden lassen, wenn der Zeitgeist es verlangt.
Und Nemo verkennt auch: Der Eurovision Song Contest (ESC) war nie eine dezidiert queere Veranstaltung. Eurovision wird inzwischen so wahrgenommen – das hat viele gute Seiten, weil gerade in Zeiten wie diesen Safe Spaces für LGBTIQ-Menschen immer weniger werden. Aber immer häufiger ist zu hören: «Was macht dieses Land hier auf der Bühne, das ist ein queeres Festival!» – und da klingeln zumindest bei mir einige Alarmsignale. Denn Eurovision ist nicht das gleiche wie der Christopher Street Day oder ein Pride March.
Das hat vor allem damit zu tun, dass beim ESC aus verschiedenen Gründen Politik eine untergeordnete Rolle spielen sollte. Immer wieder finden verschiedene Länder Wege, eine aktuelle politische Anspielung in ihr Lied zu verpacken. Jüngste Beispiele sind Armenien, deren Lied «Don’t Deny» im Jahr 2015 die Türkei an den Völkermord erinnern – Liedtext und Titel mussten geändert werden. Ein Jahr später schaffte die Ukraine es gar, mit dem Lied «1944» zu gewinnen, obwohl die politischen Anspielungen auf Russland unverkennbar waren. Auch Israels Lied in diesem Jahr hat eine schwer zu verkennen politische Botschaft.
Aber trotzdem sollte Politik und eine gesellschaftspolitische Agenda nicht im Vordergrund stehen. Denn das führt letztlich nur dazu, dass sich auch Menschen ausgeschlossen fühlen. Einer der ungewollten Effekte ist, dass einige Länder nicht beim Song Contest teilnehmen – ganz ohne von Nemo vorher ausgeschlossen zu werden. Zumindest die Türkei hat angegeben, dass sie gerade wegen der LGBTIQ-Agenda des ESC eine Teilnehme derzeit ausschliesse. Ist das ein Grund zum Feiern? Eher nicht.
Ähnliches lässt sich bei Ländern wie Marokko, Nord-Mazedonien, Moldavien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Bosnien-Herzegowina und Ungarn vermuten. Die meisten dieser Länder geben zwar finanzielle Gründe für ihr Fernbleiben beim ESC an, aber wer sich auskennt, vermutet richtigerweise eine gewisse Reserviertheit gegen ein ausgestellte Freizügigkeit und Queerness, die nicht allen gefällt. In diesem Jahr – ausgerechnet der 69. ESC – sind mehrere sehr sexuelle Anspielungen in den Liedern herauszulesen: Finnlands «Ich komme» oder Australiens «Milkshake Man» sind nur zwei Beispiele.
Im Jahr 1997 waren die meisten der genannten Länder noch dabei. Es gilt als das queere Wendejahr für den ESC: In jenem Jahr hatte der Sänger Paul Oscar aus Island vor dem Festival sein Coming-out – und im gleichen Jahr gewann die Band Katrina & the Waves. Deren Frontfrau Katrina Leskanich lebte schon damals offen lesbisch. Ihr Song hiess passenderweise «Love Shine a Light». Schon Jahre vorher hatte es allerdings den ersten versteckten queeren Song gegeben: Jean-Claude Pascal sang im Jahr 1961 für Luxemburg ein Lied über zwei Liebhaber, deren Liebe ein Geheimnis bleiben muss. «Nous les amoureux» gewann ebenfalls den Wettbewerb.
Seitdem gab es die lesbische Band t.A.T.u. aus Russland (2003) und sogar eine Hochzeit zwischen zwei Serbinnen, die auf der Bühne aufgeführt wurde (2007). Und gerade in dem Jahr, in dem Russland seine Anti-Gay-Propaganda-Gesetze einführte (2014), schickte Österreich einen langhaarigen Mann mit Bart und Kleid ins Rennen – Conchita Wurst gewann diesen historischen ESC nicht nur für Österreich, sondern gefühlt für das queere Europa.
Spätestens seitdem stellen Länder häufig queere Kandidat*innen auf – oder zumindest solche, die auch queer gelesen werden können – schlicht, damit die Chancen auf einen Sieg steigen. Erste (auch queere) Analyst*innen sprechen schon von Queerbaiting beim ESC – Identität als Strategie. Ein früheres Beispiel ist der Portugiese Salvador Sobral, der im Jahr 2017 mit seinem Liebeslied gewann und ein hetero Cis-Mann ist. Da sein Körper aber kein Testosteron produzieren kann, wie er 2024 in einem Interview angab, nutzt er gern das Label «intersex». Im portugiesischen Fernsehen sagte er: «Vielleicht habe ich das gesagt, um Teil der LGBTIQ-Familie wahrgenommen zu werden.»
Und was genau Ethan Torchio, der italienische Schlagzeuger von Måneskin, Gewinner aus dem Jahr 2021, damit meinte, als er sich als «sexuell frei» gelabelt hat – bleibt sein Geheimnis. Es erinnert an jene Heteros, die nicht aus einer Schwulenbar herausgeworfen werden wollen, aber sich auch gleichzeitig unwohl fühlen. Aber genauso wenig, wie Heteros eine Schwulenbar «kapern» sollten, muss die LGBTIQ-Community eine Regenbogenflagge auf die ESC-Bühne kleben, nur um Terrain abzustecken. Die queere Community sollte nicht daran mitarbeiten, weitere Mauern hochzuziehen, sondern eher weiter Brücken bauen, egal welche Flagge auf beiden Seiten geschwungen wird. Queers sind Teilnehmer*innen, keine Türsteher*innen beim ESC.
*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
«Fast alle meine Freunde in der Armee sind bereits tot» – Zehntausende Tote, kaputte Städte, verwüstete Landschaften – 2014 besetzte Russland völkerrechtswidrig die Krim und führt nun Krieg gegen die gesamte Ukraine (MANNSCHAFT Interview).
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