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Noch ist die Ehe für alle nicht in trockenen Tüchern

Der Schweizer Nationalrat beschliesst die Eheöffnung für schwule und lesbische Paare, doch dies ist nur die erste Hürde

Montenegro
Symbolbild: Flickr/Blavou; www.smartphotocourses.com

Was lange währt, wird endlich gut! – So könnte das Fazit zum GLP-Vorstoss «Ehe für alle» lauten, der Mitte November seinen siebten Geburtstag feiert. Lange hat die Community auf diesen Schritt gewartet. Nun hat am Donnerstag der Nationalrat die Ehe für alle samt Familienrecht und Zugang zur Fortpflanzungsmedizin für lesbische und bisexuelle Frauenpaare beschlossen. Allerdings ist noch nichts in trockenen Tüchern, wie Predrag Jurisic im Samstagskommentar* mahnt.

Manchmal scheint es, als bremste die Schweiz bergaufwärts: Was bei Autobahnausfahrten oder Ausflugstrips ins Appenzellerland tatsächlich der Fall ist, hat der Nationalrat nun deutlich widerlegt. Er hat sich mit 132 zu 52 Stimmen und 13 Enthaltungen für eine «volle Ehe für alle» ausgesprochen (MANNSCHAFT berichtete). Damit geht er weiter als der Bundesrat und die vorberatende Kommission, die sich für eine schrittweise Öffnung der Ehe ausgesprochen haben.

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Doch dies ist nur die erste Hürde: Im Herbst berät der Ständerat über die Vorlage. Sollte auch dieser die volle Ehe für alle befürworten, wartet die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) bereits mit dem Referendum. In diesem Fall hat die Schweizer Stimmbevölkerung das letzte Wort.

Fünfsatz-Krimi wie bei Federer und Nadal
Dänemark hat die eingetragene Partnerschaft am 1. Oktober 1989 eingeführt. Die Schweiz folgte ein halbes Menschenleben später am 1. Januar 2007. Auch bei der Ehe für alle lässt sich die Eidgenossenschaft Zeit: Mit Andorra und Italien bildet sie das Schlusslicht des Europas westlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs.


Verschiedene Faktoren haben die Ehe für alle gebremst. Zunächst kam die CPV-Initiative: Sie wollte die Heiratsstrafe abschaffen und zugleich die Ehe auf verschiedengeschlechtliche Paare beschränken. Im Frühling 2016 lehnte das Schweizer Stimmvolk diese Initiative ab. Zu eng war ihm der Ehebegriff gefasst. Dann stand die Frage im Raum, ob für die Öffnung der Ehe eine Verfassungsänderung vonnöten ist und somit der Segen des Stimmvolks.

Im August 2016 gab das Bundesamt für Justiz grünes Licht: Das Parlament dürfe die Ehe für alle auch ohne einen Volksentscheid einführen. 2017 beschloss der Nationalrat, die Frist zur Konkretisierung des Vorstosses um zwei Jahre zu verlängern. Ab Juli 2018 folgte die Ausarbeitung der Gesetzesänderung für die volle Ehe für alle, 2019 dann deren Vernehmlassung. Im Sommer 2019 speckte die Vorlage um die umstrittene Samenspende ab. Geboren war die «Ehe light».

Begründung: Die Ehe für alle könnte wegen des Zugangs zur Fortpflanzungsmedizin scheitern. Nach dem eindrücklichen Ja zur Erweiterung der Anti-Rassismus-Strafnorm 2020 schien die Zeit für die Ehe für alle endlich reif zu sein. Bis Corona kam. Letzte Woche dann sollte das Geschäft im Nationalrat diskutiert und beschlossen werden. Doch die Zeit reichte nicht (MANNSCHAFT berichtete). Nun gab der Nationalrat eine Woche später Vollgas und sagte ja zur vollen Ehe für alle.Was für ein Krimi – wie bei einem Fünfsatz-Match zwischen Federer und Nadal: Fortschritte und Rückschläge wechseln sich in einem epischen Schlagabtausch ab. Nun geht es in den letzten und entscheidenden Satz.


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Gleiches Recht für alle – auch für die Kinder
Dass die Ehe für alle einen so langen Anlauf gebraucht hat, könnte ihr letztlich zum Vorteil reichen: Denn dadurch hatte die Bevölkerung Zeit und Gelegenheit, sich mit dem Thema eingehend zu beschäftigen und Vorurteile gegenüber Regenbogenfamilien bzw. der Ehe für alle abzubauen. Dies nicht zuletzt, weil sich Regenbogenfamilien selbstbewusster in der Öffentlichkeit zeigen und über Vorurteile mit Skeptiker*innen sprechen. Aber auch durch den unermüdlichen Einsatz der LGBTIQ-Community, die sich mit ihren Dachorganisationen täglich für die Gleichstellung der Community einsetzt.

Ungeachtet dessen ist in der Entscheidungsphase weiteres Engagement erforderlich – ob in der eigenen Familie, im eigenen Freundeskreis oder in der Öffentlichkeit. Es geht darum zu zeigen, dass die Ehe für alle niemandem etwas wegnimmt, sondern einfach bestehendes Recht allen zugänglich macht – sowohl allen Liebespaaren als auch allen Kindern. Mit der Ehe für alle erlangen die derzeit geschätzten 30’000 Regenbogenkinder in der Schweiz dieselbe rechtliche Absicherung wie Kinder, die aus heterosexuellen Beziehungen stammen.

Der Streit um die Samenspende
Der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin ist der grösste Streitpunkt bei der Ehe für alle: Gegner*innen sorgen sich um das Kindeswohl, «weil die Kinder ein Recht auf eine Mutter und einen Vater haben». Darum lieber die «Ehe light» ohne die Samenspende für verheiratete Frauen. Und das, obschon die Samenspende in der Schweiz nicht anonym erfolgen darf und die Kinder das Recht haben zu erfahren, von wem sie abstammen und wer ihr biologischer Vater ist. Ohne eine Gleichstellung entstehen diese Kinder dann unter Umständen, die ethisch und moralisch wirklich bedenklich sind, zumal hierzulande bereits strikte Gesetze hierfür bestehen.

Ferner, heisst es, greife der Mensch zu stark in die Natur ein, weil er Kinder «auf Bestellung» im Reagenzglas zeugt. Auch dieses Argument greift zu kurz: Erstens müssten sie diesen Vorwurf auch unfruchtbaren heterosexuellen Paaren machen, die einen Kinderwunsch hegen und sich diesen bereits jetzt mit einer Samenspende erfüllen können. Zweitens müssten wir medizinische Fortschritte auch bei der Heilung von Krankheiten oder Unfällen ablehnen, bloss weil wir gerne am Leben bleiben und nicht sterben wollen, «wie es die Natur für diesen Fall vorgesehen hätte».

Und drittens kann ein Verbot der Samenspende nicht verhindern, dass Eltern ihrem Kind seine Herkunft verschweigen – egal, ob es adoptiert oder via Samenspende gezeugt wurde. Hier liegt die Verantwortung bei den Eltern. Und verantwortungsbewusste Eltern klären ihre Kinder frühzeitig über ihre Abstammung auf, damit diese kein Trauma erleben.

Wer die Moralkeule zum finalen Schwung im fünften Satz ansetzt, sollte dann bitte auch konsequent sein: Denn das Geschlecht der Eltern entscheidet nicht wirklich darüber, ob ein Kind später behütet und geliebt aufwächst, medizinisch gut versorgt und finanziell abgesichert ist. Vielmehr sind es die Fähigkeiten der Eltern, das Kind mit Liebe, Verantwortung und Verbindlichkeit grosszuziehen. Gäbe es einen Baby-Führerschein, würden viele Eltern trotz verschiedenen Geschlechts gnadenlos durchfallen. Zum Beispiel, weil sie komplett überfordert und sich deswegen dem Kind gegenüber aggressiv oder abschätzig verhalten. Oder weil sie es bereuen, Eltern geworden zu sein oder Eltern geworden sind, weil dies von ihnen erwartet wurde. Oder weil das Kind durch eine Verhütungspanne entstanden ist. Ganz zu schweigen von Eltern, die in die Drogensucht oder Kriminalität geschlittert sind.

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Im Gegensatz zu diesen Szenarien machen sich Paare – egal, ob gleich- oder verschiedengeschlechtlich – vor einer Samenspende wesentlich mehr Gedanken, ob sie ein Kind wirklich wollen und wenn ja, wie sie ihm die bestmögliche Kindheit bescheren können. Die Hindernisse sind ausserdem viel höher, als wenn es auf dem natürlichen Weg klappt. Der Vorwurf, diese Paare verhielten sich egoistisch, ist völlig haltlos und unfair. Darum sollten wir – sobald der fünfte Satz bei der Ehe für alle entschieden ist – als Gesellschaft mal über einen Baby-Führerschein nachdenken, anstatt uns an unseren Geschlechtern aufzuhängen.

Vielleicht liessen sich so soziale, gesundheitliche und wirtschaftliche Spätfolgen nicht geeigneter Eltern vermeiden. Nur würden wir damit den Menschen das Recht auf die Entscheidungsfreiheit über eine individuelle Familienplanung absprechen. Zur Erinnerung: Die jetzige Rechtslage oder auch eine «Ehe light» machen genau das.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


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