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Selbstquarantäne als Chance – «Masterclass Zuhausebleiben»

Die Wohnung nicht verlassen – nicht für alle ist es einfach, die Anweisung der Behörden einzuhalten

selbstquarantäne als chance
Silvan Hess leidet seit etwa einem Jahrzehnt an einer stark ausgeprägten agoraphobischen Angststörung. (Bild: Silvan Hess)

Agoraphobiker*innen fällt es leicht, sich an die Corona-Regeln zu halten und zuhause zu bleiben. Für sie herrscht quasi immer Selbstquarantäne, dabei sie aber nicht zwingend unglücklich sind. Während der Pandemie sind nun plötzlich ihre Tricks für ein gelungenes Zuhausebleiben gefragt.

Darauf hat uns Hollywood mal wieder nicht vorbereitet: Um in dieser tödlichen Pandemie möglichst viele Menschenleben zu retten, müssen wir einfach zuhause bleiben. Keine Laserschlacht mit Aliens, keine Zombie-Apokalypse mit blutiger Hetzjagd – einfach mal daheim sein und niemanden anstecken. Das kann nicht so schwierig sein, oder?

Doch für viele Menschen ist das nicht einfach. Der soziale Entzug drückt auf ihre Stimmung, sie fürchten sich vor Langeweile und Einsamkeit. Lange einfach zuhause zu sein verbinden viele mit dem Gefühl, unwichtig und uninteressant zu sein. Die Selbstisolation kann deshalb eine Chance für die Erkenntnis sein, dass das Zuhausebleiben nichts mit all dem zu tun haben muss.

Dank dem Internet gibt es viele Wege, ein paar Wochen daheim zu sein, ohne gleich am Rad zu drehen. Aber nicht nur die Technik, sondern auch die richtige mentalen Einstellung hilft uns dabei. Vielleicht merken wir in der Selbstquarantäne gar, dass wir als Gesellschaft unser Wertesystem überdenken sollten.


Du fragst dich jetzt vielleicht: «Was gibt diesem Klugscheisser das Recht, mir darüber einen Vortrag zu halten?»

Eine berechtigte Frage! Naja, ich bin quasi Profi, wenn es ums Zuhausebleiben geht. Ich leide seit etwa einem Jahrzehnt an einer stark ausgeprägten agoraphobischen Angststörung. Im Klartext heisst dies, dass es mir daheim am wohlsten ist und ich – vor allem für längere Reisen – nur mit Mühe das Haus verlassen kann.

Für viele ist diese Einschränkung des Privat- und Arbeitslebens so drastisch, dass sie in eine Depression geraten. Davon wurde ich glücklicherweise bisher verschont. Ich bin sogar dermassen gut drauf, dass schon mal jemand den sehr verletzenden Schluss gezogen hat, dass ich das alles nur simuliere. Nein, dieser Zustand ist auch für mich belastend und ich kämpfe jeden Tag damit. Aber ich habe die Fähigkeit entwickelt, mit dem Zuhausebleiben zurecht zu kommen.


Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit «Queerona: Mach’s dir schön Daheim»

Im Vorwurf des Simulierens spiegeln sich die Erwartungen unserer Gesellschaft: Jemand, der gezwungen ist, die meiste Zeit zuhause zu verbringen, muss doch unglücklich sein. Dem ist aber nicht so.

Lektion 1: Die grosse Welt

Wenn wir nun in der Quarantäne unsere Freundinnen und Freunde vermissen, bedeutet dies, dass sie uns wirklich wichtig sind. Ein Kollege von mir vermisst den Alltag auf der Redaktion – ein Zeichen, dass er seinen Beruf wohl richtig gewählt hat.

Chatten und telefonieren vermag über die physische Abwesenheit dieser Menschen hinwegzutrösten. Gemeinsame Film-Abende können arrangiert werden, indem man gleichzeitig auf die Play-Taste drückt. Schon lange vor den «Watch Partys» auf Facebook bin ich zusammen mit einem Freund auf diesen Kniff gekommen. Mit ihm schreibe ich seit vielen Jahren täglich, oftmals bis in die Nacht hinein. Fun Fact: Ich habe ihn noch nie in meinem Leben getroffen.

Wir könnten uns die Zeit nehmen, Briefe zu schreiben. Von Hand! Die krakeligste Handschrift ist persönlicher, liebevoller und ausdruckstärker als Times New Roman. Wir können uns kleine Aufmerksamkeiten und Grussbotschaften per Post in die Quarantäne schicken.

All diese Kommunikationsmittel wurden erfunden, um die Distanz zwischen uns zu verkleinern. Einen Menschen nicht zu sehen, heisst nicht, dass man mit ihm keine gemeinsame Zeit verbringen kann.

Exkurs: Langeweile

Der deutsche Kabarettist Hagen Rether sagt: Langeweile scheint eines der letzten Tabus unserer Gesellschaft zu sein. Das sehe ich auch so. Langeweile suggeriert, dass wir nichts zu tun haben, das in irgendeiner Form einen «Mehrwert» generiert – so ziemlich das Schlimmste, das jemandem in unserer Gesellschaft passieren kann. Wir denken dann, dass wir nicht gebraucht werden. Gerade für arbeitslose Menschen kann das Tabu der Langweile zu ernsthaften psychischen Problemen führen.

Es wäre gut, die Angst vor der Langeweile zu überwinden. Vielleicht mit einer Expositionstherapie: Setzen wir uns der Langweile bewusst aus. Dann sehen wir, dass sie nichts Schlimmes ist und finden diesen eigenartigen Frieden, der ihr zugrunde liegt.

Lektion 2: Die kleine Welt

So abgedroschen und esoterisch es klingen mag:  an einer Blume riechen, Pflanzen säen, einen Sonnenuntergang anschauen.

Das Ziel ist, die «kleinen Dinge» um uns zu sehen und zu schätzen. Du kannst dich gerne in Form einer Übung dazu «zwingen», einen Baum zu betrachten oder Vögel zu beobachten.

Ein Waldrand im Zürcher Oberland kann wohl nicht in allen Belangen mit einem weissen Sandstrand auf den Malediven mithalten. Ich wäre auch mal wieder gerne an einem Strand. Das Problem ist, dass sich viele nicht mal diesen Strand genau anschauen, wenn sie denn schon für viel Geld dorthin geflogen sind. Sie sehen den Wasserfall, die Bergkette oder die Wüste nicht als Naturwunder, sondern als Sujet für Instagram und als Statussymbol.

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Wer keinen Waldrand zur Hand hat und auch nicht das Glück hat, einen Garten zu besitzen, wird in der Wohnung Dinge finden, die uns lehren können, die Welt mit anderen Augen wahrzunehmen. Wir können die neue Sicht auf die Dinge auch in Fotos festhalten oder in Bildern. Oder in Gedichten. Es darf in der Selbstisolation ruhig auch zu Kunst kommen, muss aber nicht sein.

Ändert sich der Blick auf die Dinge, ändern sich womöglich auch unsere Interessen.

  • Wir könnten Gegenstände herstellen. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass es keine handwerkliche Begabung braucht, um sich fürs Basteln zu begeistern.
  • Wir könnten uns weiterbilden.
  • Wir könnten Fotos endlich mal anschauen und nicht immer nur welche knipsen.
  • Wir könnten fürs Krafttraining unser eigenes Körpergewicht als Widerstand einsetzen und auf den Gang zum Fitness verzichten.
  • Oder wie wäre es mit einer Reise nach innen? Ich bin noch Anfänger in der Kunst des Meditierens, aber froh, damit angefangen zu haben.

Wer rumsitzt und meditiert oder die Natur betrachtet, der macht gemäss unserem Sprachgebrauch «nichts». Und wer «nichts» macht, traut sich das kaum jemandem zu erzählen.

Vielleicht ändert sich das jetzt.

«Für sowas hätte ich keine Zeit», sagt nun jemand. Das mag sein. Dieser Umstand ist aber eher traurig als etwas, auf das man stolz sein muss. Menschen sollten für sowas Zeit haben. Vor allem diejenigen, die merken, wie gut ihnen das tut.

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Zwei Dinge zum Schluss

Wenn man wegen einer Angststörung das Haus nicht verlassen kann, ist es grundsätzlich gut, wenn man sich zuhause wohl fühlt. Strategien zu entwickeln, die helfen, das Haus gar nicht mehr verlassen zu müssen, ist jedoch schlecht und verstärkt die Symptome. Dies nennt sich «Vermeidungsverhalten». Dazu will ich niemanden motivieren.

Ausserdem wäre es ignorant, so zu tun, als könnte sich jeder Mensch in dieser Zeit zuhause gut fühlen. Nicht alle haben ein Zuhause. Andere haben vielleicht eine enge und laute Wohnung. Andere müssen sich ihr Zuhause mit Menschen teilen, die ihnen schaden.

Das Zuhausebleiben wirkt wie ein Katalysator: Konflikte werden verstärkt oder treten dadurch überhaupt erst in Erscheinung. Das ist ein schmerzhafter, aber in manchen Fällen unter dem Strich ein guter Prozess.


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