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«Unsere Freunde starben, einer nach dem anderen»

Regisseur Robin Campillo über das AIDS-Drama «120 BPM»

Gegründet nach US-amerikanischem Vorbild, kämpfte die Aktivistengruppe «Act Up» im Paris der frühen Neunziger für HIV-Prävention und Zugang zu AIDS-Medikamenten. Regisseur Robin Campillo hat ihr Engagement im französischen Spielfilm «120 BPM» realitätsnah dokumentiert.

Robin, wie lange hast du die Idee für «120 BPM» mit dir herum­getragen?
Ich dachte im Grunde schon sehr lange über eine Realisierung dieses Filmes nach. Ich hatte mich in den Achtzigern gerade an den Filmhochschulen beworben, als AIDS zum Thema wurde. Doch der Ausbruch der Epidemie hatte eine derartige Wirkung auf mich, dass ich nach meinem Abschluss jegliches Interesse am Filmemachen verlor. Ich war angespannt und ängstlich und konnte dem nur entgegenwirken, indem ich mich irgendwann der Aktivistengruppe «Act Up» anschloss. Als ich mich dann später von meinem Kollegen Laurent Cantet doch dazu bringen liess, zum Film zurückzukehren, wusste ich eigentlich immer, dass ich mal einen Film über AIDS drehen wollte.

Also nahmst du dich deiner persönlichen Erfahrungen an?
Nicht unmittelbar. Zunächst dachte ich für eine lange Zeit, dass ich einen Film über die Anfänge von AIDS in Frankreich drehen würde. Aber irgendwie passte das nicht, ich fand einfach nicht den richtigen Zugang zum Thema. Vor ungefähr sieben Jahren fiel mir dann zum ersten Mal auf, dass ich den richtigen Ansatz für eine Geschichte vielleicht die ganze Zeit vor Augen hatte: meine eigene Zeit als Aktivist in den Neunzigerjahren. Plötzlich wusste ich ganz genau, wovon ich erzählen würde. Was nicht heisst, dass mir das nicht einen riesigen Respekt eingeflösst hätte. Ich hatte wirklich Angst, unsere Vergangenheit vielleicht nicht akkurat genug darzustellen und meine früheren Mitstreiter zu enttäuschen. Doch irgendwann hatten mich meine Produzenten davon überzeugt, dass andauerndes Zögern und Überlegen die Sache nicht leichter machen würden. Also machte ich mich nach 25 Jahren endlich an die Arbeit.

Nathan (Arnaud Valois) protestiert in «120 BPM» gegen den Pharmakonzern «Melton-Pharm», der für AIDS-Kranke potenziell entscheidende Forschungsdaten unter Verschluss hält.

Welche Relevanz hat denn diese Geschichte gerade heute?
Ich weiss gar nicht, ob ich sagen würde, dass sie heute mehr Relevanz hat als vor zehn oder 20 Jahren. Dass ich «120 BPM» gedreht habe, hat nichts mit der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage in Frankreich zu tun. So etwas wäre mir auch viel zu schlicht. Mit erhobenem Zeigefinger dem Publikum eine Lektion erteilen – das war das Letzte, was ich im Sinn hatte.


Worum also ging es dir?
Ich wollte die Erinnerung bewahren. Ich erinnere mich noch daran, wie wir schon damals Angst hatten, dass man uns und unsere Erfahrungen irgendwann vergessen würde. Denn unsere Freunde starben, einer nach dem anderen. Würde irgendwer später noch erzählen können, was wir durchgemacht haben? Wie es sich anfühlt, einen Kampf buchstäblich mit Leib und Seele auszufechten, weil unsere Körper in Gefahr waren?

«Würde irgendwer später noch erzählen können, was wir durchgemacht haben?»

Das wollte ich nun zeigen, ohne dabei belehrend zu sein. Und ich wollte ein Gefühl dafür vermitteln, mittendrin zu stecken in einem Kampf, statt ihn zu beginnen, so wie es andere Filme über Aktivismus ja oft tun.

Du hast Angst erwähnt. Wovor genau hast du dich damals gefürchtet? Vor der Krankheit? Oder vor der Gesellschaft?
Ich hatte damals, auch in jungen Jahren, kein Problem mit meiner eigenen Homosexualität. In Frankreich war man mehr oder weniger tolerant gegenüber Schwulen, zumindest, solange sie einigermassen diskret waren. Und das war damals für mich in Ordnung. Doch mit dem Aufkommen von AIDS hielt plötzlich ein neues Gefühl von Scham und Schande Einzug. Die alte Mär vom Schwulsein als Krankheit steckte eh noch in den Köpfen – und nun wurden wir Schwulen auch noch von einer tatsächlichen Krankheit heimgesucht. Es war grauenhaft und unvorstellbar. Oft empfand ich die Situation damals als irreales Science-Fiction-­Szenario. Zumal sich dann Leute wie Michel Foucault hinstellten und sagten, AIDS sei doch bloss eine Erfindung. Nur um dann selbst daran zu sterben. Das alles lähmte mich und meine kreativen Impulse vollkommen.


Und wie kamst du dann zu Act Up?
Letztlich durch die Arbeit. Ich konnte zwar nicht in der Filmbranche tätig sein, aber immerhin verdiente ich als Cutter beim Fernsehen mein Geld. Da arbeitete ich überwiegend für Nachrichtensendungen – und stiess so auf Berichte über Act Up und ihre Aktionen. Als ich mich ihnen dann anschloss, kam es manchmal sogar vor, dass ich Berichte schneiden musste, in denen ich selbst zu sehen war. Durch die Schulen gehen und Kondome verteilen zum Beispiel, so wie ich es in «120 BPM» zeige, war etwas, was ich immer wieder gemacht habe.

«120 BPM» ist natürlich nicht der erste Film, der sich mit AIDS auseinandersetzt. Hast du dich mit anderen beschäftigt, sei es als Inspiration, sei es zur Abgrenzung?
Nicht konkret in Vorbereitung auf meinen Film, aber natürlich habe ich im Laufe der Jahre viele Filme über AIDS gesehen. «Silverlake Life: The View From Here» hat seine Spuren hinterlassen. Das ist ein Dokumentarfilm, in dem ein Mann seinen kranken Partner mit der Kamera beim Sterben begleitet. Der hat mich sehr beeindruckt, weil er ganz nahe herangeht an die Krankheit, bis zum bitteren Ende. Am Ende ist ein realer Leichnam zu sehen.

Pläne, Diskussionen und Streitgespräche: «120 BPM» zeigt den Alltag der Pariser Aktivistengruppe «Act Up» in den früher Neunzigerjahren.

Der erste grosse Hollywoodfilm über das Thema war «Philadelphia», der bis heute umstritten bleibt.
Was ich natürlich verstehen kann. Aber ich muss sagen, dass der Film trotzdem einen besonderen Platz in meinem Herzen hat, auch wenn ich nicht sagen kann, wie er mir heute gefallen würde. Damals war es sehr wichtig, dass es ihn überhaupt gab. Ein Holly­wood-Film mit prominenten Schauspielern in den Hauptrollen, der von einem schwulen Mann und von AIDS erzählt – das war eine grosse Sache. Und nichts, was in Frankreich vorstellbar gewesen wäre. Der erste AIDS-Film, an den ich mich bei uns erinnere, war «Les Nuits Fauves». Zwar aus der gleichen Zeit, aber im Zentrum standen ein bisexueller Mann, der HIV-positiv ist und seine Lebensgefährtin ansteckt. Die Botschaft war letztlich: Wer sich wirklich liebt, darf was riskieren und braucht keine Kondome. Das fanden wir nicht nur bei «Act Up» damals unglaublich naiv, unverantwortlich und sehr französisch.

Du selbst verknüpfst nun in «120 BPM» gesellschaftspolitischen Aktivismus mit einer intimen Liebesgeschichte. Wie hast du die richtige Mischung gefunden?
Mir gefiel der Gedanke, dass mein Film im Grunde ein grosses Haus voller Bewohnender ist und man sich als Zuschauer beim Betreten erst einmal orientieren muss. Man weiss noch gar nicht, wer letztlich Protagonist sein wird und wer Nebenfigur, und man hat auch keine Ahnung, wie sich aus diesem grossen Ganzen eine Geschichte entwickeln wird.

«Ich wollte jene Zeit zeigen, wie ich sie damals persönlich erlebt habe.»

Deswegen fängt der Film auch ganz unmittelbar an: Das Publikum erhält keine erklärende Einführung, sondern ist gleich mittendrin in den Diskussionen, in denen es gilt, sich zurechtzufinden. Da geht es dem Zuschauer wie Nathan, der im Film neu zu Act Up stösst. Doch gleichzeitig wollte ich eben jene Zeit genauso zeigen, wie ich sie damals persönlich erlebt habe. Und die bestand eben nicht nur aus Aktivismus und Streitgesprächen, sondern auch aus ganz intimen, privaten Momenten und Beziehungen.

Ist die Beziehung zwischen Nathan und Sean eine, die du selbst erlebt hast?
Nicht ich, aber ein Freund von mir. Der verliebte sich, wie so viele von uns, in einen Kerl, der positiv war. Unter anderen Umständen wäre die Geschichte vielleicht nach ein paar Monaten beendet gewesen, aber dann wurde der andere krank und mein Freund blieb bis zu seinem Tod bei ihm und pflegte ihn. Aus Liebe, aus einem Gefühl von Verantwortung, aus Mitleid – das war eine emotional höchst komplizierte Gemengelage. Aber es gehörte zu unserer Situation dazu. Im Film sagt Sean zu Nathan kurz vor dem Ende im Krankenhaus: «Es tut mir leid, dass du es sein musstest.» Das ist für mich der vielleicht wichtigste Satz des Films.

Ein Engagement wie jenes von Act Up gibt es heutzutage im Kontext von AIDS kaum noch. Weil es nicht mehr nötig ist?
Oh nein, davon kann keine Rede sein. Es ist nur einfach sehr schwer, die Menschen zu mobilisieren, wenn es nicht mehr wie damals ganz unmittelbar ums Überleben geht. Heute ist eine HIV-Diagnose nicht automatisch ein Todesurteil, und gerade PrEP hat noch einmal alles verändert. Dabei gibt es unglaublich viel, wofür wir kämpfen sollten.

«Es ist sehr schwer, die Menschen zu mobilisieren, wenn es nicht mehr wie damals ganz unmittelbar ums Überleben geht.»

Das politische Klima ist überall auf der Welt erschreckend, die Pharmaindustrie und ihre Lobby hat viel zu viel Macht und in Afrika kann es sich kaum jemand leisten, jeden Tag teure Medikamente zu schlucken. Act Up gibt es immer noch – und es wäre wünschenswert, die Organisation würde wieder mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Schon in den Achtzigerjahren studierte der in Marokko geborene Franzose Robin Campillo an der Filmhochschule, doch erst ein Jahr später begann er schliesslich, fürs Kino zu arbeiten. Als Cutter und Autor etwa arbeitete er mit dem Regisseur Lauren Cantet an Filmen wie «Auszeit» oder «Die Klasse» zusammen und erhielt für Letzteren auch den renommierten César.

Seinen ersten eigenen Spielfilm, die Zombiegeschichte «Les revenants», brachte Campillo 2004 auf die Leinwand. Neun Jahre später folgte «Eastern Boys» über einen schwulen Pariser, der eine Beziehung mit einem jungen Ukrainer beginnt. Sein neuer Film «120 BPM» feierte Weltpremiere beim Festival von Cannes, wo er den Grossen Preis der Jury gewann. Ausserdem ist das AIDS-Drama Frankreichs Einreichung für den Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film. Schweizer Kinostart ist am 18. Januar 2018.


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