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§175: Rehabilitierung und Entschädigung kam deutlich zu spät

Noch lange nach 1945 wurden Schwule in Deutschland verfolgt und verurteilt

§175
Foto: AdobeStock

Homosexuelle stellen kaum Anträge auf Entschädigung nach einer Verurteilung oder Verfolgung nach §175 StGB (MANNSCHAFT berichtete). Das entsprechende Gesetz läuft bald aus. Warum die Frist verlängert werden sollte, schreibt Georg Härpfer, ehemaliges Vorstandsmitglied von BISS (Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren) in seinem Kommentar*.

Am 22. Juni 2017 beschloss der Deutsche Bundestag das Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (StRehaHomG). Mit diesem Gesetz wurden alle strafrechtlichen Urteile aufgehoben und damit alle Betroffenen rehabilitiert. Für ihre Verurteilungen und eine erlittene Freiheitsentziehung können die Betroffenen bis zum 21. Juli 2022 einen Antrag auf Entschädigung stellen.

Durch die Richtlinie zur Zahlung von Entschädigungen für Betroffene des strafrechtlichen Verbots einvernehmlicher homosexueller Handlungen aus dem Bundeshaushalt vom 13. März 2019 wurden die Entschädigungsleistungen erweitert auf Personen, gegen die ein Strafverfahren eingeleitet wurde, welches durch Freispruch oder durch Einstellung endete und auf Personen, die im Zusammenhang der strafrechtlichen Verbote einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter aussergewöhnlichen negativen Beeinträchtigungen zu leiden hatten. Auch hier ist der Anspruch auf Entschädigungsleistungen bis zum 21. Juli 2022 beim Bundesamt für Justiz geltend zu machen.

Rehabilitierung und Entschädigung ist deutlich zu spät gekommen.

So bedeutend diese Rehabilitierung und Entschädigung der nach §175 StGB und 151 StGB-DDR auch ist, so ist doch festzustellen, dass die Rehabilitierung und Entschädigung deutlich zu spät gekommen ist. Man kann davon ausgehen, dass es in der Bundesrepublik in der Zeit von 1945 bis 1994 zu über 60.000 Verurteilungen gekommen ist. In der DDR, welche den Strafrechtsparagraphen in der milderen Form von 1872 bis 1968 angewandt hatte, der 1968 bis 1988 durch den Jugendschutzparagraphen 151 ersetzt wurde, geht man von rund 4000 Verurteilungen aus. In Anbetracht dieser schaurigen Zahlen ist es ernüchternd, dass bis jetzt nur rund 300 Anträge auf Entschädigungen nach dem Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetz und auch nur etwa 100 Anträge nach der Entschädigungsrichtlinie eingegangen sind.


Die Gründe, dass so wenig Anträge auf Entschädigungen gestellt wurden, sind in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass das Gesetz um Jahre zu spät gekommen ist. Die meisten Verurteilungen fielen in die Zeit der 50er Jahre bis Mitte der 60er Jahre und die meisten der Verurteilten aus dieser Zeit sind nicht mehr am Leben. Das Alter der Männer, welche Entschädigungsanträge gestellt haben, ist zwischen 75 und 99 Jahre.

Entschädigungsleistungen viel zu gering
Ein weiterer Grund, dass auch Betroffene keinen Antrag gestellt haben, ist die Tatsache, dass die Entschädigungsleistungen viel zu gering sind 3000 Euro je aufgehobenes Urteil und 1500 Euro für jedes angefangene Jahr in Haft, kann man nicht als angemessene Entschädigung bezeichnen. Die nach der Richtlinie von 2019 zu gewährende Entschädigung, mit 500 Euro für ein erlittenes Ermittlungsverfahren, 1500 Euro je angefangenes Jahr für eine vorläufige Freiheitsentziehung durch Untersuchungshaft ohne Verurteilung und 1500 Euro für eine erlittene aussergewöhnliche Beeinträchtigung aufgrund einer Anklage sind auch kein grosser Anreiz auf eine Antragstellung. Die Geldleistungen sind nicht als Schadenersatz zu verstehen, wie das Bundesamt für Justiz in der Pressemitteilung vom 13. September 2021 mitgeteilt hat, sondern gelten als eine symbolische Anerkennung erlittener Beeinträchtigungen.

Und wegen dieser «symbolischen Anerkennung» sind sicher auch einige Betroffene nicht bereit, sich wieder den vor vielen Jahren erlittenen Qualen zu stellen. Da die Gerichtsakten nicht mehr vorhanden sind und die meisten Betroffenen ihre Urteile nicht aufbewahrt haben, können die Nachweise der Verurteilung durch ein niederschwelliges Nachweisverfahren, eine eidesstattliche Versicherung, erbracht werden. Die eidesstattlichen Versicherungen müssen von den zuständigen Staatsanwaltschaften geprüft werden. Die Bundesvertretung schwuler Senioren (BISS) in Köln übernimmt die Fertigung dieser eidesstattlichen Versicherungen für die Antragsteller kostenfrei und dieses wurde von den meisten Antragstellern auch wahrgenommen. Trotzdem kann diese weitere Einlassung mit den Anklagen und Verurteilungen, die meistens schon 50 bis 60 Jahre zurückliegen wieder zu traumatischen Erlebnissen führen. Dieses ist ein grosses Hindernis für viele der älteren Männer, wie mir mehrmals bei diversen Gesprächen und Vorträgen gesagt wurde.


Auch wenn nicht erwartbar ist, dass eine Verlängerung der Antragsfrist über den 21. Juli 2022 hinaus, eine sehr viel grössere Zahl von Antragstellern auf Entschädigung bringen wird, ist es wünschenswert, die Antragsfrist zu verlängern. Dafür spricht auch, dass für das Entschädigungsgesetz und die Richtlinie 30 Millionen Euro im Haushalt bereitgestellt sind und bisher nur knapp 860.000 Euro ausgezahlt wurden.

Laut einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wurden in der Bundesrepublik noch bis 1969 rund 50.000 Männer wegen ihrer Sexualität verurteilt. So wie Fritz Schmehling, der von der Polizei direkt von Lehrstelle abgeholt wurde, ohne Anwalt oder elterliche Begleitung – MANNSCHAFT berichtete).

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen LGBTIQ-Thema. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


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