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100 Jahre queere Befreiung – danke, Magnus Hirschfeld!

Am 6. Juli 1919 eröffnete Magnus Hirschfeld in Berlin das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft

Magnus Hirschfeld
Foto: Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Berlin

1919 eröffnete Magnus Hirschfeld in Berlin das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft. Der Gründungsvater der modernen Sexologie war ein Pionier der westlichen LGBTIQ-Bewegung. Auch wenn die Nazis sein Institut zerstörten, wirkt sein Erbe bis heute nach. Text: Jeff Mannes*.

Er erfüllte sich damals seinen lang ersehnten Traum: 22 Jahre nachdem der jüdische Arzt und Sexualwissenschaftler Dr. Magnus Hirschfeld 1897 im damals noch von Berlin unabhängigen Charlottenburg die weltweit erste Organisation für die Rechte von LGBTIQ, das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee (WHK), mitbegründet hatte, eröffnete er am 6. Juli 1919 in einer von ihm erworbenen Villa sein Institut für Sexualwissenschaften.

In Berlin-Tiergarten war das, nicht weit entfernt vom Reichstag, nahe dem Spree-Ufer: die weltweit erste und bis nach dem zweiten Weltkrieg einzige Einrichtung dieser Art. Und schon bald genoss sie internationales Ansehen. 100 Jahre später findet dort nun am Freitag eine Gedenkveranstaltung statt.

Magnus Hirschfeld kämpfte gegen §175
«Mit Wissenschaft zur Gerechtigkeit» hiess der Leitspruch des einzigartigen Instituts, das Grössen und Bekanntheiten aus der ganzen Welt anlockte und eines der Hauptziele des WHK befeuern sollte: die Abschaffung des §175, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte. Schon bald kamen unzählige Mediziner*innen ins Institut, um sich kostenlos in menschlichen Sexualitäten fortzubilden. Einige dieser Fortbildungen wurden von Karl Giese durchgeführt, einem der beiden Lebensgefährten des polyamoren Hirschfelds. Der Arzt war zudem nicht nur einer der Erfinder der künstlichen Befruchtung, sondern entwickelte auch die Ansätze der modernen Sexualtherapie und Eheberatung. Auch diese wurden kostenlos im Institut angeboten.


Sexuelle Zwischenstufen
Als 1930 die inter- und transgeschlechtliche Lili Elbe von Dänemark nach Berlin kam, war es zudem Hirschfelds Institut, das die womöglich weltweit erste Mann-zu-Frau geschlechtsangleichende Operation durchgeführt hat. Mit seiner Theorie der sexuellen Zwischenstufen lieferte Hirschfeld Pionier-Arbeit für die heutige Geschlechterforschung. Er sah Geschlecht nicht als binär, also als zwei voneinander getrennte Kategorien, sondern als ein Kontinuum von rein männlich zu rein weiblich. Rein männlich und weiblich jedoch gibt es laut Hirschfeld in der menschlichen Natur nicht.

Vielmehr habe jeder Mensch eine Mischung aus sowohl männlichen als auch weiblichen Eigenschaften. Zwar würden die meisten Menschen eher zum einen oder zum anderen Ende dieses Geschlechtskontinuums neigen, viele jedoch seien eher mittig dieser Skala anzufinden. Es sind diese Menschen, die er als sexuelle Zwischenstufen bezeichnete, zu denen Hirschfeld auch Homo- und Bisexuelle, sowie trans- und intergeschlechtliche Menschen zählte.

Magnus Hirschfeld
Jeff Mannes bei einer seiner Führungen durch Berlin (Foto: privat)

Der Titel seines berühmten Werkes «Berlins drittes Geschlecht» ist dabei irreführend. Insgesamt glaubte der «Einstein des Sex», so nannte Rosa von Praunheim den Sexualwissenschaftler in seinem Film über dessen Leben und Werk, nicht an die Existenz von drei, sondern von mehr als 60 Geschlechtern. Von dem männlichen Geschlecht zugewiesenen Menschen, denen in der Pubertät Brüste wachsen, bis hin zum berühmten Fall von Bertha D., eine dem weiblichen Geschlecht zugewiesene Person, deren Klitoris in der Pubertät bedeutend wuchs und als Penis funktionierte, so dass Bertha sich in unterschiedlichen Lebensphasen mal als Mann, mal als Frau identifizierte und mit verschiedenen Geschlechtern Sex hatte: Hirschfelds Interesse und Freiheitskampf galt dem ganzen Spektrum an geschlechtlicher und sexueller Vielfalt.


Dank Hirschfeld gab es ein Transvestiten-Zertifikat, das es Menschen ermöglichen sollte, öffentlich in den Kleidern aufzutreten, in denen sie sich am wohlsten fühlten

Da es teilweise die modernen Identitätsbegriffe trans und inter nicht gab, prägte Hirschfeld kurzerhand seine eigenen Begrifflichkeiten. Auf ihn ging die Bezeichnung «Transvestit» zurück. Und obwohl die Weimarer Republik damals das öffentliche Tragen von Kleidern, die nicht dem zugewiesenen Geschlecht entsprachen, verbot, gelang es Hirschfeld, Berlin davon zu überzeugen, ein sogenanntes Transvestiten-Zertifikat einzuführen, das es eben jenen Menschen ermöglichen sollte, auch öffentlich in den Kleidern aufzutreten, in denen sie sich am wohlsten fühlten. Und sollte selbst dies nicht für ein einigermassen freies und unversehrtes Leben ausreichen, bot das Institut zudem auch die Möglichkeit der Schutzunterkunft an: So flüchteten einige Menschen aus sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten in das Institut.

Masturbationsmaschinen mit Fusspedal
Schlussendlich beherbergte das Institut auch ein Sexualmuseum. Hier konnten Besucher*innen Ausstellungsstücke wie mit Penissen bemalte Schuhe, Zeichnungen von Sado-Masochist*innen, oder Masturbationsmaschinen für Frauen bestaunen, die mit einem Fusspedal bedient wurden, die einen Dildo in rhythmische Vor- und Zurückbewegungen versetzten.

Reichstag beschloss 1929, Paragraph 175 zu streichen
Die Nazis sahen in Hirschfeld den Beweis der Perversion jüdischer Religion und begannen schon früh, Propaganda gegen Hirschfeld zu betreiben. Obwohl 1929 Hirschfeld endlich mit seinem Kampf gegen §175 Erfolg hatte, und der Reichstag beschloss, den Paragraphen in den kommenden Jahren zu streichen, kam es dann doch nicht mehr dazu. 1933 übernahm Hitler die Macht, das Institut war eines der ersten Orte, das den Nazis zum Opfer fiel.

Magnus Hirschfeld
Magnus Hirschfeld und einer seiner Lebensgefährten Li Shiu Tong in Nizza, 1934 (Foto: Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Berlin)

Hirschfeld floh nach Frankreich, wo er zwei Jahre später verstarb. Tief enttäuscht, hatte er doch zusehen müssen, wie sein Lebenswerk zerstört wurde. Am 6. Mai 1933 plünderten die Nazis das Institut und verbrannten fast alle Bücher vier Tage später auf dem Opernplatz (heute Bebelsplatz). Das Wenige, das verschont blieb, wurde vom Finanzamt verscherbelt, oder wurde spätestens in der Schlacht um Berlin, gegen Ende des zweiten Weltkriegs 1945 zerstört. Selbst das Gebäude steht heute nicht mehr. In der Nähe, unweit des heutigen Hauses der Kulturen der Welt, erinnert nur noch eine kleine Gedenktafel an die ehemalige Geburtsstunde der modernen westlichen LGBTIQ-Bewegung. Und dort kommt es leider immer wieder zu Vorfällen von Vandalismus.

* Jeff Mannes, Sozialwissenschaftler aus Berlin, bietet mit seinem Sex-Blog ORGYSMIC eine Stadtführung über Berlins Geschichte des Sex. Seine Tour kann man hier buchen.


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