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«Der ESC ist jetzt schon unser queeres Weltkulturerbe»

Der Contest ist ein Abend, der friedlich über eine gemeinsam als am besten geeignete Tonspur Europas abstimmen lässt

Europawahlen
Österreich, Schweden, Israel, Zypern und Sagreb - zusammen beim ESC in Tel Aviv (Foto: eurovision.tv)

Am vorletzten Tag der Europawahlen konstatiert Jan Feddersen in seinem Samstagskommentar*: Die intensivsten Freunde der europäischen Idee, die über einen Showwettbewerb auszutragen sei, sind wir – Queers.

Einen Tag, ehe die Wahlen zum EU-Parlament zuende gehen und die Stimmen ausgezählt werden, bietet sich auch ein Blick zurück an. Auf ein eben gerade beendetes Ereignis, den Eurovision Song Contest. Vor einer Woche feierte er sein Finale, und zwar in Tel Aviv. Eine Stadt, die am Mittelmeer liegt und doch politisch mit der EU nichts zu tun hat. Was wir vor einer Woche sahen, war ein Eurovisionsfest – das heisst: Das einzige Showformat, an dem an einem Abend 150 Millionen Zuschauer*innen sich zusammenfinden, um einen Sieger (oder eine Siegerin, wie im vorigen Jahr die Israelin Netta Barzilai) zu ermitteln.

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Dieses Format gibt es seit 1956, und man kann ohne grössere Übertreibung sagen: Es sind wir, die wir diesen ESC über alle Jahre als seine größten Supporter am Leben, am fidelen Leben gehalten haben. Der ESC – er ist jetzt schon unser queeres, besser: schwules Weltkulturerbe, besser: Europakulturerbe. (Wobei amerikanische Freunde schon mal voller Respekt sagen: «Wir hatten Stonewall, ihr habt den ESC erfunden.»)

Der ESC ist immer von zwei Seiten verabscheut worden. Einerseits von allen Kulturkritikern, die europäische Kultur vor allem als eine der Eliten verstanden wissen wollen, mit «Freude schöner Götterfunken» und so. Und andererseits von heterosexuell orientierter Popkulturkritik, die im ESC zu wenig Juryeinfluss erkennen (und damit sich selbst, Topchecker schlechthin, entwertet sehen, sie haben dann weniger zu melden) und sowieso alles für «Eurotrash» (so etwa der Tagesspiegel -Popbeauftragte Gerrit Bartels, besonders berüchtigt) halten, was beim ESC so hören ist.


Am Ende ist es so, wie in Tel Aviv vor einer Woche zu besichtigen: Die intensivsten Freunde der europäischen Idee, die über einen Showwettbewerb auszutragen sei, sind wir – Queers. Schwule Männer und ihre Freundinnen und Freunde, Kosmopoliten. Das heisst mehr Weltbürger als solche, die nationalistischen Phantasien anhängen. Der ESC ist ein Abend, der friedlich über eine gemeinsam als am besten geeignete Tonspur Europas abstimmen lässt.

Dass das Fest des Europäischen ausgerechnet dieses Jahr, wenige Tage vor den EU-Wahlen, in Tel Aviv, stattfand, mag ein göttlich eingefädelter Zufall gewesen sein: Ausgerechnet in dem Land, das Queeristen vielerlei Couleur für weniger respektabel halten als etwa die benachbarten Gebiete, die nicht zu Israel zählen und von Palästinensern bewohnt sind, der Gaza-Streifen.

Dass die israelische Regierung einen regenbogenbunten ESC feiert und damit für Israel selbst Werbung macht, fanden natürlich die meisten ESC-Touristen in Tel Aviv gut – oder es war ihnen gleichgültig. Als schwule Männer konnten sie die Stadt und ihre durchaus freundlichen Bewohner geniessen: Man war fraglos, man musste keine Angst haben, man war unangefochten. Das wäre indes im Gazastreifen nicht der Fall gewesen: Und dieser Unterschied ist wichtig. Pinkwashing, so der Vorwurf, sei es, wenn eine Regierung mit ihren queeren Errungeschaften für sich Reklame macht. Ich finde: Das können sie gern tun, wenn es denn nicht gelogen ist.


Und das war und ist es eben nicht: Israel ist, ein Blick ins geschäftige Treiben Tel Avivs genügt, wahnsinnig multikulturell, es sieht in puncto Hautfarben wie die ganze Welt gebündelt aus – und das zu betonen bedeutet nicht, die Besatzung des Westjordanlandes zu verteidigen noch die schroffe Politik wider die Politik der Islamisten im Gazastreifen, die deren Bevölkerung im Griff haben. Wobei: Was heißt schon schroff? Wenn Bomben auf Tel Aviv von dort drohen, darf es gerne auch mal robust sein: Es geht schliesslich auch um queere Lebensformen, die geschützt gehören.

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Und was das alles mit Europa und den EU-Wahlen zu tun hat? Es gibt kein Pinkwashing. Es gibt Länder, in denen queere Rechte fixiert sind, in denen sie gelten – und bei Verletzung eingeklagt werden können. Das Europa der EU ist ein Kontinent, in dem queere Rechte – nicht alle, aber sehr, sehr viele – gelten, und diese EU verdient auch deshalb Verteidigung in jeder Hinsicht. EU-Wahlen – das heisst: Keine Stimmen irgendwelchen Nationalisten oder Rechtspopulisten. Kein Votum für jene, die die Uhren zurückdrehen wollen.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


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