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Safe Space und Öffentlichkeitsarbeit stehen im Widerspruch zueinander

Anna Rosenwasser im Gespräch

Anna Rosenwasser ist seit 1. September 2017 Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz LOS.

Am 12. Mai referiert Anna Rosenwasser am Vernetzungs­treffen von Queer Lake über das Dilemma der Öffentlichkeits­arbeit. Mit der Mannschaft spricht die Geschäftsführerin der LOS zudem über die Anliegen ihrer Organisation, den Ausschluss von Männern und Google als bestes Aufklärungstool.

Anna, was verstehst du unter einem Safe Space?
Die Frage ist schon fast philosophisch (lacht). Ich habe keine feste Definition im Kopf. Ein Ort, an dem alle gegenüber Kritik offen sind und das Gegenüber respektieren.

Warum gibt es ein Dilemma zwischen Safe Space und Öffentlichkeitsarbeit?
Einerseits muss ich das Thema LGBTIQ gegen aussen vertreten, Leute sensibilisieren und ihnen einen niederschwelligen Zugang ermöglichen. Andererseits muss ich darauf hinarbeiten, dass ich mich dabei zu jedem Zeitpunkt sicher fühle und es auch bin.


Auf YouTube wurde mir schon gesagt, dass ich aufgrund meiner Hässlichkeit auf beide Geschlechter angewiesen sei.»

Hast du dich im Rahmen deiner Öffentlichkeitsarbeit einmal unsicher gefühlt?
Auf YouTube wurde mir schon gesagt, dass ich aufgrund meiner Hässlichkeit auf beide Geschlechter angewiesen sei. Ich bin in einer denkbar privilegierten Position, da ich als feminin wirkende bisexuelle Frau nicht mit vielen Reaktionen rechnen muss. Nicht, dass ich es als Wettrennen betrachte, wer am meisten Hass bekommt.
Die Medien ziehen mich oft als Expertin zu LGBTIQ-Themen bei. Es ist schon vorgekommen, dass man mir persönliche Fragen zu meinem Coming-out gestellt hat. Solche Fragen beantworte ich selten. Im Gegensatz zu anderen Menschen, die im LGBTIQ-­Bereich arbeiten, bin ich als Journalistin über die Rechte informiert, die ich gegenüber den Medien habe, beispielsweise das Ausschlagen einer Frage oder das Gegenlesen meiner Zitate. Daher ist es wichtig, dass LGBTIQ-Personen über ihre Rechte gegenüber Medienschaffenden im Bilde sind. Damit können sie verhindern, dass die Berichterstattung gegen sie verwendet wird.

Siehst du das Internet als Wegbereiter eines solchen Dilemmas?
Ich bin mir noch nicht sicher. Bei mir überwiegt die Liebe zum Internet. Ich bin ihm für die Möglichkeiten, die es der LGBTIQ-­Community bietet, sehr dankbar. Jegliche Identität ist googlebar, jeder Jugendlichen und jedem Jugendlichen wird dabei vermittelt: «Hey, da draussen gibt es eine Community für dich, auch wenn sie im jetzigen Moment weit weg scheint.»
Die Kehrseite sind die Hasskommentare. Als Neujahrsvorsatz habe ich mir vorgenommen, sie nicht mehr zu lesen, obwohl sie ein grosses Potenzial für die Öffentlichkeitsarbeit bieten. Indem man sachlich auf einen Hasskommentar eingeht, regt man nicht unbedingt den Verfasser oder die Verfasserin zum Umdenken an, sondern all diejenigen, die ihn lesen.

«Ziel ist es, dass sich niemand mehr eine dicke Haut zulegen muss. Das wäre eine Zumutung.»

Man muss sich also eine dicke Haut zulegen.
Nein. Ziel ist es, dass sich niemand mehr eine dicke Haut zulegen muss. Das wäre eine Zumutung.


2017 hast du mit «Andersh» einen Safe Space für queere Jugendliche in Schaffhausen gegründet. Hättest du in deiner Jugend einen solchen Treff gebraucht?
Seit drei Jahren lebe ich nun in Zürich und jedes Mal, wenn ich nach Hause gehe, kommt mir Schaffhausen immer kleiner vor. Es ist ein grosses Dorf, nicht wirklich ländlich, aber mit dem Gout einer Kleinstadt. Die Leute schauen dich länger an, wenn du an ihnen vorbeigehst. Schaffhausen wirkt sehr herzlich und persönlich auf mich und ich habe mich dort schon immer sehr wohl gefühlt. In meiner Gymnasialzeit zwischen 14 und 18 Jahren hatte ich ein grosses Glück, denn ich verfügte über einen Freundeskreis von Frauen, in dem alles richtig gemacht wurde, was in der Jugend hätte falsch laufen können, zum Beispiel mit Esstörungen oder Drogen. Zwischen 17 und 20 hatte ich eine sehr stabile und gesunde Beziehung mit einem Mann, die mir ein positives Verständnis von Liebe und Sexualität verschafft hat. Meine Beschäftigung mit dem Feminismus entwickelte sich aus einem sicheren Umfeld, nicht aus einer Position der Verletzung.

Dir hat ein Safe Space also nicht gefehlt?
Eine Schulgruppe hätte ich schon toll gefunden. Nicht die homosexuelle Community fehlte mir, sondern eine queer-feministische – ein Anschluss an Menschen, die Geschlecht als etwas Wandelbares, Verspieltes betrachten. Das gab es in Schaffhausen nicht. Erst Jahre später liefen mir an einer Offstream in Zürich Leute aus der Kanti über den Weg, von denen ich nicht wusste, dass sie queer sind. Das darf nicht passieren.

Wie ist das Feedback zu Andersh?
Durchaus positiv. Wir erhalten auch viel Zuspruch von cis-heterosexuellen Menschen. Andersh findet einmal im Monat statt, einige kommen jedes einzelne Mal, andere sehr häufig. Wir haben Leute, für die war Andersh ein Turning Point. Nach dem zweiten oder dritten Treffen nach unserer Gründung schickten uns vier Jugendliche ein Selfie und schrieben: «Danke, dass wir weniger alleine sind.» Das war ein grosser «Wow»-Moment. Eine solche Wirkung darf man nicht unterschätzen.

Ist die Schweizer LGBTIQ-Community ein grosser Safe Space oder haben wir noch viel Arbeit vor uns?
Wir müssen an uns arbeiten. Das Schöne ist, dass unsere Community wachsen kann. Sie sieht anders aus als noch vor fünfzig oder vor zehn Jahren, unter anderem auch, weil unsere Geschichte vor allem schwul-lesbisch geprägt ist. Heute geht es nicht nur um die Inklusion von trans, sondern auch von asexuell, nonbinär und inter.
Die Community ist heterogen und besteht aus vielen Freundeskreisen, die sich streifen. Daher wird sie auch von jeder Person anders aufgenommen. Ich nehme sie als offen, herzlich, neugierig und warm wahr und habe bereits viel von ihr gelernt.

«Die LOS ist für alle da. Sie steht für die Rechte von Frauen ein, die auf Frauen stehen.»

Du bist seit 1. September Geschäfts­leiterin für die Deutschschweiz der Lesbenorganisation Schweiz LOS. Wie hast du die Zeit seither erlebt?
Als sehr schön. Ich erfahre viel Unterstützung, die Kritik wird stets in konstruktiver Form ausgeübt. Die Leute lassen mich spüren, dass sie gut finden, was ich mache.
Ich bin 28 Jahre alt – genauso alt wie die LOS. In ihrer Geschichte kommen nicht nur Errungenschaften vor, sondern auch Menschen und Konflikte, und das bekomme ich natürlich nur langsam mit. Ich versuche präsent zu sein und mit Leuten ins Gespräch zu kommen, auch mit solchen aus meiner Generation. Die sagen: «Wenn ihr euch nur für Lesben einsetzt, kommen wir nicht.» Das Wort «Lesbe» ist sehr negativ konnotiert, mit ihrem Namen will die LOS das Wort zurückerobern. Das kann als Widerspruch gesehen werden, denn die LOS heisst alle Queers willkommen, nicht nur Lesben. Einige finden es komisch, wenn sie hören, dass ich auch auf Männer stehe. Die LOS ist für alle da. Sie steht für die Rechte von Frauen ein, die auf Frauen stehen.

Vor der LOS warst du bei der Milchjugend aktiv. Wie hat sich deine Arbeit verändert?
In der Milchjugend haben wir den Blick auf Dinge geschärft, die gesetzlich schwer verankert werden können, darunter etwa die Unterstützung von Jugendlichen durch die Stadt und den Bund. Wir haben uns auf die Schaffung einer Community konzentriert, die einen positiven Zugang zum Queersein ermöglicht. Dieses Anliegen ist politisch, schlägt sich aber kaum in der Politik nieder.
Bei der LOS setzen wir uns nebst der Lohngleichheit und der «Ehe für alle» für eine Gleichstellung von eingetragenen Frauen bei der Witwenrente ein. Ich bin 28 und habe mich doch noch nie mit der Witwenrente beschäftigt! (Lacht.)
Ein Problem der LOS ist die Unsichtbarkeit. Seit September baue ich verschiedene Kanäle aus, um bisexuelle und lesbische Frauen sichtbarer zu machen. Unter anderem habe ich einen Instagram-Kanal eröffnet. Ein Teil meiner Arbeit besteht also aus dem Suchen von lesbischen Memes (lacht). Aber es wirkt, wir haben viele junge Menschen als Mitglieder gewonnen.

«Ich verhalte mich in der Gruppe anders, wenn Männer anwesend sind.»

An einer Veranstaltung im Rahmen des LOS-Symposiums letzten Oktober waren Männer ausgeschlossen. Ist das noch zeitgemäss?
Eine sehr interessante Frage. Wie wollen wir auf Exklusivität beharren, wenn wir uns doch gegen festgefahrene Geschlechter und für eine inklusive Community einsetzen? Einerseits ist es wichtig, dass wir alle zusammenarbeiten. Andererseits müssen wir erkennen, dass die Geschlechter sozialisiert sind, wenn es zum Beispiel um die Redezeit von Mann und Frau im öffentlichen Diskurs geht oder um gefühlte und tatsächliche Hierarchien zwischen den Geschlechtern. Ich sehe es an mir: Ich verhalte mich in der Gruppe anders, wenn Männer anwesend sind. Es liegt also an feministisch empfindenden Männern, dieses Bedürfnis anzuerkennen. Problematisch wird es erst dann, wenn keinerlei Austausch mehr besteht. In diesem Rahmen finde ich es in Ordnung.

Kannst du es nachvollziehen, wenn Männer sich durch einen solchen Ausschluss angegriffen fühlen?
Klar, es ist natürlich, sich angegriffen zu fühlen! Ich kenne das Gefühl. Wenn ich zum Beispiel Gesellschaftskritik am weissen Menschen lese, dann denke ich auch: «Hey, wir sind nicht alle so!» Erst im Nachhinein realisiere ich, dass man diese Gespräche auch untereinander führen will. Der Ausschluss ist nicht persönlich zu nehmen, es geht um Fragen von Privilegien.

Wie kann man sich seiner Privilegien als Mann besser bewusst werden?
Ganz einfach: googeln! Es gibt sehr viele gute Texte, mit denen man sich auseinandersetzen kann. Wenn man im Gespräch über Privilegien hässig wird und denkt, die andere Person wolle einem etwas ankreiden, dann kann das Nachlesen sehr hilfreich sein.
Es geht den Schwulen doch ähnlich. Es gibt Menschen, die beim Stichwort «Schwule» sofort denken: «Oh mein Gott, Analsex!» Als wäre Analsex der zentraler Lebensinhalt der Schwulen. Analog bei Lesben: «Oh mein Gott, es gibt keinen Penis, wie habt ihr Frauen Sex?» Da sage ich nur: Google Lesben- und Analsex, bis deine Neugier gestillt ist!

«Es macht im Moment noch Sinn, als getrennte Organisationen eine enge Zusammenarbeit zu pflegen.»

Die Inklusion von Frauen in der LOS sorgte für Diskussionsstoff. Einige Mitglieder wollten die Organisation lesbischen Cis-Frauen vorbehalten.
Es ist ein Generationenunterschied. Das Symposium war da, um diese Diskussionen zu führen. Der Gedanke wurde ausgesprochen, dass trans Frauen nicht lesbisch sein können. Bei allen Diskussionen gibt es einen Punkt, wo ich sagen muss, es gibt eine Grenze, und diese Grenze ist Transphobie. Schliesslich sind ältere Frauen auf mich zugekommen und sagten, dass bei ihnen ein grosser Lernprozess stattgefunden habe.
Die Haltung ist historisch bedingt. Bis in die Neunzigerjahre ging es im Feminismus darum, sich von Männern abzugrenzen und als Frauen sichtbar zu werden. Für die Haltung, trans Frauen seien männlich sozialisierte Menschen oder Männer, gibt es bei uns keinen Platz mehr. Zentrales Anliegen der LOS ist immer noch der Feminismus und wir setzen uns für lesbische Lebensweisen ein. Da sind alle mitgemeint.

Wir haben vier Dachverbände – für Lesben, Schwule, trans Menschen und Regenbogenfamilien. Wäre es nicht sinnvoller, die Kräfte mit einer Dach­organisation zu bündeln?
Diese Frage stelle ich mir häufig. Es macht im Moment noch Sinn, als getrennte Organisationen eine enge Zusammenarbeit zu pflegen und Synergien – so abgelutscht dieses Wort auch ist – zu nutzen. Die Frauen befürchten, in einer gemeinsamen Dachorganisation unterzugehen, weil die LOS im Vergleich zu Pink Cross sehr klein ist und gegen die Unsichtbarkeit kämpfen muss. Diese Angst ist historisch begründet und hat feministische Gründe. Daher braucht es noch eine separate Frauenorganisation. Was aber nicht ausschliesst, dass die queere Community als Ganzes funktionieren kann.

Anna Rosenwasser spricht am 12. Mai im Rahmen des Vernetzungstreffens von «Queer Lake» in Friedrichshafen zum Thema Safe Space und Öffentlichkeitsarbeit. In einem weiteren Vortrag gibt Andreas Häner Tipps zum Fundraising für NGOs. Queer Lake ist eine internationale Plattform für die Bodenseeregion. Der Anlass soll die Community sowie die 55 Organisationen aus der Gegend miteinander bekannt machen.


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