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«Ich will mich nicht erklären müssen.»

Interview mit Indierocker Ezra Furman

Ezra Furman. (Bild: Sibilla Calzolari)

Im Februar meldet sich Indierocker Ezra Furman mit «Transangelic Exodus» zurück. Martin Busse sprach mit dem Singer-Songwriter über die Entstehung der Platte, schlechte Musikkritiken und die Angewohnheit der Menschen, andere in Schubladen zu stecken.

«Mannschaft Magazin? Wie die Wörter Mann und Schaft? Also der Schaft vom Penis? Mich bringt das zum Schmunzeln.» Es ist ein kalter Wintertag, als Ezra Furman zum Interview erscheint. Kritisch, aber zu keiner Zeit unreflektiert, berichtet der Amerikaner von seinen Gedanken und enthüllt dabei Stück für Stück, wie er als queerer gläubiger Jude über unsere Gesellschaft, aktuelle Krisen und die Welt als solche denkt.

Ezra, du bist gerade in Deutschland unterwegs. Wie sind deine Eindrücke?
Wenn man als jüdische Person nach Deutschland kommt, kann das paranoide Gedanken auf den Plan rufen. Du realisierst plötzlich, dass es hier gewesen ist, wo all die Gräuel­taten passiert sind. Die Morde an Juden und Homosexuellen. Bei meinem ersten Berlinbesuch hatte ich ein paar Tage frei, zog durch die Stadt und sah etliche Davidsterne. An den Wänden und auf den Böden. Das stürzte mich in eine Art Identifikationskrise. Dann begann ich, Fremde zu treffen und in verschiedene illegale Berliner Bars zu gehen. Orte, an denen man tanzen und Alkohol trinken kann, auch wenn die Betreiber keine Lizenzen dafür besitzen. Das war grossartig!

Als queerer Jude durch Adolf Hitlers ehemalige Hochburgen zu streifen, war eine Genugtuung.

Im Schatten von etwas wie dem Faschismus zu stehen, scheint die Entwicklung von Untergrundkulturen anzuheizen. Es wird wichtiger als anderswo, sich von gängigen Strömungen zu lösen und Unabhängigkeit zu leben. Diese Erkenntnis verdrängte mein Ohnmachtsgefühl. Als queerer Jude durch Adolf Hitlers ehemalige Hochburgen zu streifen, war eine Genugtuung. Er hätte das gehasst.


Du kannst auf eine sehr umfangreiche Diskografie zurückschauen.
Nun, ich bin auch schon seit elf Jahren im Geschäft. Ich hatte eigentlich immer gehofft, jedes Jahr ein Album auf den Markt bringen zu können. Also mindestens eins. Dann hätte ich auch mit den Beatles Schritt halten können. Manchmal scheint es aber besser zu sein, zu warten.

Warum?
Die Industrie möchte zumindest, dass du wartest. Man arbeitet dort zyklisch und hat noch andere Dinge im Kopf als die reine Musik. Was meine neue Platte «Transangelic Exodus» betrifft, wollte ich mir bei der Entstehung aber auch selbst Zeit lassen. Früher hätte es mich verrückt gemacht, acht Monate damit zuzubringen, ein Album fertigzustellen. Irgendwie hat sich das verändert.

Woran liegt das?
Ich schätze, ich bin ein besserer Musiker geworden und habe neue Fertigkeiten erlernt. Ausserdem war ich neugierig, wie es wäre, anders an die Sache heranzugehen und entgegen meiner üblichen Gepflogenheiten zu handeln. In der Vergangenheit habe ich mich oft mit den ersten Takes von Aufnahmen zufriedengegeben. Die Alben, die ich mit den Harpoons zusammen veröffentlicht habe, entstanden beispielsweise in nur fünf Tagen.


Wir fragten uns damals immer, warum wir Songs erneut aufnehmen sollten, wenn sie bereits gut waren. Wenn ich dann heute aber so grossartige Alben wie die von Vampire Weekend, Kanye West oder Kendrick Lamar höre, möchte ich das Potenzial der modernen Technik ebenfalls komplett ausschöpfen. Meine Songs sollen so spannend wie möglich klingen, und zwar ungeachtet dessen, ob das dann noch den Eindruck einer Band im Proberaum erweckt. Ich will mir nichts verbieten, sondern suche nach der grösstmöglichen Freiheit. Wirklich guten Platten hört man an, dass jemand das getan hat, worauf er oder sie Lust hatte, und dass diese Person sich dabei sämtlicher Fesseln, die sie zurückhalten hätten können, entledigt hat.

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In unserer binären Welt zählst du zu den genderfluiden Menschen. Wie würdest du das jemandem erklären, der absolut keine Ahnung hat, was das bedeutet?
Vermutlich wäre ich nicht die richtige Person, um das zu erklären. Um ehrlich zu sein, habe ich mich nur ein einziges Mal als genderfluid bezeichnet, und seitdem klebt dieser Begriff an mir. Wer wirklich wissen will, was sich hinter dem Wort verbirgt, der sollte es nachschlagen. Was ich sagen kann, ist dass ich geschlechtsnonkonform bin. Für Leute ist das hart zu akzeptieren. Sie wollen einander einsortieren. Ich selbst sehe mich manchmal als feminin. Aber nur zu einem bestimmten Grad. Mir ist es kein Bedürfnis, mich einer Mannschaft, einem bestimmten Team anzuschliessen. Teilweise habe ich das Gefühl, als verlange man von queeren Menschen häufig, dass sie sich einer heterosexuellen Welt erklären sollten. Das macht einen müde. Es wird immer Leute geben, die uns akzeptieren und jene, die das nicht tun, egal, wie oft wir auch versuchen, ihnen begreiflich zu machen, wer wir sind.

Warum ist es für viele Menschen so schwer zu verstehen, dass sich nicht alles in Schubladen stecken lässt?
Vermutlich ist das unseren Gesellschaftsstrukturen geschuldet. Jeder wächst mit ihnen auf. Sie gehören zu den Prozessen, wie wir Dinge lernen. Und Schubladen können hilfreich sein.

Dein neues Album «Transangelic Exodus» erscheint am 9. Februar. Bist du gespannt, wie es aufgenommen wird?
Ich hoffe natürlich, dass die Hörer_innen es mögen, beziehungsweise etwas für sich daraus ziehen können werden. Allerdings ist der Punkt, an dem ich mir diesbezüglich Sorgen und Hoffnungen mache, eigentlich schon überschritten. Die Platte ist fertig und ich weiss, dass sie ziemlich nah an dem dran ist, was ich mir vorgestellt habe. Bevor und während sie entstand, hatte ich allerdings häufiger Bedenken. Wenn die Leute das Album wirklich hassen würden, wäre ich vermutlich enttäuscht, aber auch neugierig. Ich weiss nicht, wieso, aber manchmal lese ich gern schlechte Kritiken. Mich interessiert, was jemanden stört. Das kann hilfreich sein.

Ezra Furman. (Bild: Sibilla Calzolari)

Auf «Transangelic Exodus» geht es auch um das Thema Stigmatisierung. Inwiefern ist das ein persönliches Anliegen?
Wenn jemand für etwas stigmatisiert wird, das nicht seiner Kontrolle unterliegt, kann ihn das sehr verletzlich machen. Ich habe das Gefühl, dass genau diese Leute zunehmend um ihre Sicherheit bangen müssen. Solidarität für sie aufzubringen, ist mir wichtig. Es gab Momente, in denen auch ich stigmatisiert wurde und mich verschiedenen Gefahren ausgesetzt gesehen habe. Das ist der persönliche Anteil. Viele Menschen, die ich kenne und liebe, aber auch viele, denen ich nie begegnet bin, werden täglich bedroht. Ich denke, es ist unsere Pflicht als menschliche Wesen, uns um die Verletzlichen zu kümmern. Aus meiner Sicht ist das die wichtigste moralische Grundeinstellung. Eine der Aussagen, die in der Bibel mehr als dreissigmal wiederholt wird, ist die, dass du den Fremden lieben sollst, denn auch du bist einst fremd gewesen.

Was ist darunter zu verstehen?
Alles, was dir selbst widerfahren ist, solltest du zum Anlass nehmen, um denen beizustehen, denen es schlecht geht. Daran lässt sich der Wert einer Gesellschaft messen. Wie sie Bedürftige behandelt. In diesem Zuge komme ich allerdings zu dem Ergebnis, dass viele moderne Gesellschaften moralisch zerfallen. Antiflüchtlingsgesetze? Wir sehen Leute, die aufgrund von Terror und Gewalt ihre Heimat verlassen haben. Und was tun wir? Wir sagen ihnen, dass wir sie nicht aufnehmen wollen, dass wir ihnen nicht vertrauen. Ich habe mich selbst zu oft gefragt, ob es einen Ort auf dieser Welt gibt, wo ich wirklich hingehöre. Anti­flüchtlingsgesetze machen mich wahnsinnig. Sie machen mich absolut wütend!

Gibt es denn auch Stärken, die du in unseren heutigen Gesellschaften siehst?
Ich möchte nicht sagen, dass alles furchtbar ist. Es gibt auch Menschen, die einander unterstützen. Liebe umgibt uns, und zwar überall. Das lässt mich hoffen.

Fast ein Jahr regiert Donald Trump nun schon dein Heimatland. Ist es wirklich so schrecklich, wie viele Amerikaner sich dies vorab vorgestellt haben?
Ich weiss es nicht. Für einige ist es sicherlich schlimmer geworden, als sie zuvor dachten. Ich selbst kann mein Leben noch immer genauso wie früher leben. Es hat sich kaum etwas verändert. Aber ich gehöre auch zu der privilegierten weissen Bevölkerung. Verschiedene Dinge schützen mich. Meine Eltern sind zum Beispiel verhältnismässig wohlhabend. Wieder sind und bleiben es diejenigen, die am verletzlichsten sind, die leiden müssen. Es herrscht Chaos. Wir haben einen schlechten Anführer, den ich keinesfalls unterstütze.


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