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Kahl – egal?

«PFS-Hysterie»
Am Ende des Artikels weist Thornton aber auf den wichtigen Punkt hin, dass das PFS weiterhin eine kontroverse Diagnose darstelle. «Die PFS-Skeptiker halten es für ebenso wahrscheinlich, dass andere Gründe – der Alterungsprozess, zum Beispiel, oder psychosomatische Erkrankungen – für die Beschwerden der Männer verantwortlich sind.» Auch Pierre de Viragh gibt sich im Hinblick auf das Post-Finasterid-Syndrom vorsichtig. «In der Fachwelt ist es sehr umstritten, ob das PFS wirklich existiert.» Die Nebenwirkungsrate von Finasterid sei dieselbe wie vor zwanzig Jahren, und bei «den meisten verläuft die Behandlung problemlos», so de Viragh.

Entsprechend empfehle und verschreibe er das Mittel weiterhin. Auch der Dermatologe Ralph Trüeb, ehemaliger Leiter der Haarsprechstunde am Unispital Zürich, relativiert die PFS-Problematik. In der NZZ erklärte er, ihm sei in seiner Praxis in zwanzig Jahren noch kein einziger Fall mit Post-Finasterid-Syndrom begegnet, während Hans Wolff, Haarsprechstundenleiter an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, von einer «kollektiven Hysterie» spricht, die in den USA ausgebrochen sei. Wen aber Zweifel plagten, so der Rat des Experten, solle das Mittel absetzen.

Persönliche Erfahrung: Es funktioniert
Ich selbst nahm Finasterid mehrere Jahre lang ein. Dass der Wirkstoff Nebenwirkungen haben könnte, war mir schlicht und einfach egal, als ich die erste Pille aus der Packung drückte und mit einem Schluck Wasser runterspülte. Der Wunsch, mein Haar nicht zu verlieren, war damals übermächtig – nie und nimmer hätte mich die statistisch geringe Wahrscheinlichkeit negativer Begleiterscheinungen abschrecken können. Und tatsächlich, es funktionierte: Nach kurzer Zeit kam der Haarausfall zum Stillstand, wenig später begannen gar neue Haare zu spriessen. Ich war begeistert: Als ich meinen 30. Geburtstag feierte, hatte ich dichteres Haar als mit 26! Allfällige Nebenwirkungen blieben dabei vollständig aus, ich hatte keinerlei Beschwerden. Insofern hat mir das Medikament sehr geholfen: Es bewahrte mich davor, mich umgehend und unvorbereitet mit einer körperlichen Veränderung auseinandersetzen zu müssen, die mich womöglich in die geistige Selbstzerfleischung getrieben hätte. Das Präparat verschaffte mir Zeit, sozusagen.


Mehr Selbstvertrauen
Ich erinnere mich, wie ich in jenen Tagen mit meinem Bruder über das Thema sprach. Auch sein Haar hatte sich zu lichten begonnen, doch im Gegensatz zu mir liess er der Natur freien Lauf. Natürlich machte er keine Freudensprünge ob der Tatsache, dass sich seine einst luxuriösen Locken langsam von der Bühne verabschiedeten. Aber er war mit seiner eigenen Person derart im Reinen, dass er die Entwicklung ertragen konnte. Er ruhte in sich, während ich meinen Eigenwert noch allzu sehr über mein Aussehen, und mein Aussehen noch allzu sehr über meine Haare definierte.

 

Foto: Pascal Triponez

Ein langer, aber machbarer Weg
Vor ein paar Monaten habe ich das Medikament nun abgesetzt. Nicht, weil doch noch Nebenwirkungen aufgetreten wären. Auch nicht, weil mich der langsam wieder einsetzende Haarausfall urplötzlich kalt liesse. Noch immer ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich wehmütig an die Zeit zurückdenke, in der ich mit der Hand durch meine langen Haare fahren konnte. Noch immer versetzt es mir bisweilen einen Stich ins Herz, wenn sich ein weiteres Haar löst und vor meinen Augen zu Boden schwebt, einem gelbverfärbten Blatt im Herbstwind gleich. Und noch immer kann es vorkommen, dass ich mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung auf den makellosen und unversehrten Haaransatz des Mannes starre, der mir im Zug gegenübersitzt oder auf der Strasse meinen Weg kreuzt. Im Gegensatz zu früher aber kann ich diese Gefühle besser ertragen und einordnen.

Zurück zur Natur
Meinen Entscheid, das Finasterid abzusetzen, verstehe ich als die Folge eines Anspruches, den ich an mich selbst gestellt habe: Den Anspruch, mich von den Fesseln belastender Schönheitsdiktate zu befreien und mein Lebensglück nicht länger davon abhängig zu machen, ob ich Haare auf dem Kopf trage oder nicht. Fakt ist, dass ich ein gesunder Mensch bin. Der tägliche Griff zu einem Medikament, das in meinen Hormonhaushalt eingreift, war von einem medizinischen Standpunkt aus noch nie angezeigt. Vielmehr bestand aus persönlicher Sicht eine gewisse Dringlichkeit zur Einnahme: Finasterid half mir durch eine Zeit, in der mir der Haarausfall noch sehr zugesetzt hätte. Insofern bin ich dankbar für das Mittel und einer der Letzten, der negative Worte darüber verliert. Doch nun – so glaube ich – komme ich ohne klar. Vor allem will ich ohne klarkommen.


Selbst in die Hand nehmen
Ein letzter Punkt sei an dieser Stelle noch erwähnt: Wenn man dem Autor Daniel Jones glaubt, dann dürfte die kopfhaarlose Zukunft sowieso ganz erträglich werden. «Die Kahlrasur erlebt derzeit ihre Hochblüte», schreibt Jones in der New York Times. Der Trend komme gerade zur rechten Zeit für «Typen wie ihn, die diesen drastischen Schritt nie gewagt hätten, wenn nicht zahlreiche andere vor ihm den nötigen Mut gehabt hätten». Man habe es Männern wie Kelly Slater und Jason Statham, Vin Diesel, Michael Stipe oder Sir Ben Kingsley zu verdanken, dass ein blanker Kopf unterdessen salonfähig sei. «Darüber hinaus ist es ein grosser psychologischer Vorteil, sich irgendwann komplett von der schütter werdenden Haarpracht zu trennen», meint Jones: «Es ist dasselbe, wie wenn man der Partnerin oder dem Partner den Laufpass gibt, bevor sie oder er es kann», so Jones’ bildhafte Erklärung. «Oder wie wenn man ins Büro des Chefs stürmt und sagt: Du kannst mich nicht feuern – ich kündige!»

Fotos: Pascal Triponez Photography
Make-up: Philipp Keusen
Model: Winston Arnon


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