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„Ich habe nichts gegen nackte Haut“

Am Samstag zog die CSD-Parade durch Stuttgart. Die Veranstalter wollten, dass der politische Charakter nicht zu kurz kommt, und setzten zum dritten Mal eine Jury ein, die die teilnehmenden Gruppen bewerten sollte. Das Motto lautete: „Perspektiv-Wechsel“. Prominentestes Jury-Mitglied war der offen schwule Moderator und Lottofee Chris Fleischhauer, der im Vorfeld Kritik an zuviel „sexueller Freizügigkeit“ geäußert hatte und dafür selber angegriffen wurde. 

Chris, wie nackt war der Stuttgarter CSD?

Es war eigentlich so gut wie gar nicht nackt, überraschenderweise, trotz der heißen Temperaturen. Ich weiß nicht, ob das jetzt wegen der Debatte so war, glaube ich aber nicht. Es herrschte eine gute Stimmung. Da ist vieles ja im Vorfeld hochgekocht worden, was so gar nicht stimmte. Nun war Stuttgart ja generell noch nie so ausfallend, wie es vielleicht in anderen Städten der Fall war. Und die, die da ohne jede Botschaft durch die Gegend fahren, das waren vor allem die Partywagen, da gab es dieses Mal auch nur zwei. Da weiß ich auch nicht, ob die eine Berechtigung haben, da mitzufahren, die bewerben schließlich nur ihre eigene Party. Da wackelten die Jungs auf dem Wagen mit ihren Ärscheln durch die Gegend, ohne jede politische Botschaft – das ist schon ein bisschen ärgerlich. Ich habe ja gar nichts gegen nackte Haut, bloß wenn da keine Botschaft mittransportiert wird, finde ich es unpassend. Nun gibt es die, die sagen, nackte Haut gehört in der Geschichte des CSD dazu und so weiter – das geht mir ein bisschen auf den Kranz. Bloß weil man es Jahrzehnte so gemacht hat, heißt das doch nicht, dass es immer noch der richtige Weg ist.


Was ist der richtige Weg?
Gerade bei dem Motto dieses Jahr „Perspektiv-Wechsel“ war es vielleicht ein guter Anlass, mal darüber nachzudenken, wie eigentlich der CSD der Zukunft aussieht. Um was kämpft man noch, nachdem die Eheöffnung durch ist? Es geht jetzt eher um die allgemeine Akzeptanz in der Gesellschaft, aber wie erreicht man die? Was ist mit dem Thema Coming-out am Arbeitsplatz zum Beispiel? Das ist die Diskussion, die ich anstoßen wollte: ein Schritt zurück, weg von schrill, extrem, laut. Wie will man sich in Öffentlichkeit darstellen? Wenn man heute Morgen die Zeitungen aufgeschlagen hat, sieht man wieder die schrillen Bilder. Das ist das, was nach außen geht. Aber das ist gewissermaßen die Minderheit der Minderheit. Dass die Leute mit fetter Federboa für die große Masse stehen, ist ja nicht richtig. Aber diejenigen, die ruhiger auftreten und nicht auffallen, haben keine Chance, sich zu präsentieren und in den Medien stattzufinden.

Chris Fleischhauer
Seit 2013 für die Ziehung der Lottozahlen im Einsatz: Chris Fleischhauer (Foto: dltb-beckerbredel)

Richtet sich dieser Vorwurf nicht an die Medien? Du hast ja selber bis letztes Jahr als Programmchef Fernsehen gemacht: Man zeigt doch die Bilder, die was hermachen. Sollte man nicht jeden beim CSD so nackt sein lassen, wie er will?
Klar, Du kannst den Schwarzen Peter den Medien zuschieben. Aber ich finde, man kann sich doch mal an die eigene Nase fassen und sich überlegen, ob man die Kommunikation der eigenen Ziele auf eine andere Stufe stellt und wie man auftritt. Vielleicht kann man das innerhalb der Community diskutieren: Wenn wir weniger Nacktheit zeigen, dann zeigen die Medien auch andere Bilder. Natürlich sind die Medien auch in der Pflicht, das Thema Akzeptanz in der Gesellschaft mal aufzugreifen, anstatt nur bunte Bilder zu zeigen. Gerade für die Personen, die in der Community drinstecken so wie Anne Will, wäre das ein Thema. Wir haben die Ehe für alle und das Adoptionsrecht, aber was kommt danach? Da sehe ich vor allem die Öffentlich-Rechtlichen in der Pflicht, da müsste mehr passieren. Auch das ist Aufklärung und trägt zur allgemeinen Bildung bei, aber leider macht man um dieses Thema noch einen großen Bogen.

[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Alle Parteien hatten durchweg auf ihren Wagen null politische Botschaft[/perfectpullquote]


Wie seid Ihr konkret beim CSD mit dem Thema Nacktheit umgegangen?

Wir haben in der Jury weniger die Nacktheit bewertet als die politische Botschaft. Wie gut, wie kreativ ist das Motto „Perspektiv-Wechsel“ umgesetzt worden? Es ging um das große Ganze. Es sollten die belohnt werden, die sich besonders viel Mühe bei der Umsetzung gemacht haben. Ja, es gab auch nackte Teilnehmer. Das ist ja auch nicht schlimm. Wenn damit eine Botschaft vermittelt wird, ist es auch gut so. Die Partywagen habe ich darum entsprechend schlechter bewertet. Aber um mal von der Nacktheit wegzukommen: Alle Parteien hatten durchweg auf ihren Wagen null politische Botschaft, von CDU über FDP und SPD bis Grüne und Linke. Das fand ich schon grenzwertig, wenn da Parteien mitfahren und die SPD zum Beispiel Wahlplakate am Wagen anbringt, anstatt eine konkrete Botschaft an die Gesellschaft zu richten. Es gab das floskelhafte Betonen der eigenen Offenheit, aber das will doch niemand mehr hören. Das fand ich insgesamt unheimlich traurig. Vieles machen die Parteien dort nur, um Wählerstimmen zu generieren.

Wart Ihr Euch in der Jury bei der Bewertung einig oder gab es größere Diskussionen?
Ich hatte mich bei den Kollegen vorgestellt als ‚der Böse aus der Presse‘, und es gab ja auch Leute, die gegen mich demonstriert haben und ein Schild mit Eure Sittenpolizei geht mir am Arsch vorbei hochhielten. Ich habe aber relativ schnell festgestellt, dass die Meinungen in der Jury ganz ähnlich waren. Ab und zu habe ich gespickt bei den Kollegen und gemerkt, dass die alle sehr wohl auch auf die politische Botschaft geachtet haben. Ich habe auch gemerkt, dass ich teilweise Sachen besser bewertet haben als die anderen, und da dachte ich: Gut, dann bin ich doch nicht das schwarze Schaf. Ich hatte den Tobias Gehre neben mir sitzen, der veranstaltet den CSD in Münster. Dort gibt es nur Fußgruppen, keine Wagen. Da wird sehr auf politische Botschaften geachtet, weil man auf Kommerz verzichten will. Das ist schwierig bei der Finanzierung des CSD, aber es ist ihnen wichtig und sie machen das seit vielen Jahren so, weil sie wollen, dass es eine Politparade ist und bleibt. Davor habe ich großen Respekt!


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