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§175: 60 Jahre Warten auf Rehabilitierung

Es war die 1. Lesung des Gesetzes „zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen„. Neben den offen schwulen Politikern von SPD, Grünen und Linken – Johannes Kahrs, Volker Beck und Harald Petzold – sprachen gestern auch Vertreter und Vertreterinnen der Union. Weitgehend einig waren sich die Redner darin, dass es einen Rechtsstaat auszeichne und ihn stärke, eigene Fehler korrigieren zu können. Uneinigkeit bestand darüber, ob die  Verurteilungen zwischen 1949 und 1969 – 64.000 nach Schätzung des Justizministeriums – als Unrecht zu bezeichnen sind. Immerhin bestätigte das Bundesverfassungsgericht noch 1957, dass der „Schwulenparagraf“ mit dem Grundgesetz im Einklang stehe.

Beck (Grüne) und Petzold (Linke) sagten zu, dass ihre Fraktionen dem Gesetz der Regierungskoalition in seiner jetzigen Fassung zustimmen würden, drückten aber ihre Hoffnung aus, dass in den Ausschüssen noch Nachbesserungen bei der Entschädigungssleistung erreicht werden können. Durch eine Verurteilung nach §175 hatten viele Menschen Nachteile im Job; deswegen hätten sich viele eine niedrigere Rente erarbeitet, was auch auszugleichen sei.

Erste Erfahrungen im Schwimmbad


Die Debatte wurde von etlichen Opfern des §175 und Vertretern der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS) aufmerksam verfolgt. Auch Fritz Schmehling aus Rastatt in Baden-Württtemberg saß auf der Ehrentribüne. Er ist heute 74. Schmehling wusste schon früh, dass er schwul ist. In seiner Heimatstadt waren damals viele französische Soldaten untergebracht, die im Schwimmbad eigene Zeiten hatten, zu denen es Deutschen verboten war, die Umkleiden oder Duschen zu betreten. Der junge Schmehling tat es trotzdem, aus Neugier. Dort sammelte er seine ersten Erfahrungen.

Rehabilitierung
Fritz Schmehling (Foto: Brisant/ARD, Screenshot)

60 Jahre ist es her, dass er verhaftet wurde – direkt von der Lehrstelle weg, ohne Anwalt oder elterliche Begleitung ist er von der Polizei abgeholt worden. „Gleichgeschlechtliche Unzucht mit Männern“ warf man dem Teenager vor. Aufgeflogen war er, weil Nacktbilder, die ein Fotograf aus Rastatt von ihm gemacht hatte, kursierten. Zwar hatte Schmehling ihn gebeten, sein Gesicht nicht zu zeigen, aber daran hatte der Mann sich nicht gehalten. Und da sein Vater in der Kleinstadt Lehrer war, war der Junge schnell identifiziert.

Verurteilt zu vier Jugendfreizeitarresten


Zu Hause kam alles raus, als die Vorladung zum Jugendgericht eintraf. Sein Vater war bei der Verhandlung als Erziehungsberechtigter dabei. Schmehling wurde zu vier Jugendfreizeitarresten verurteilt: Samstagmittags musste er in den Knast, Sonntagnachmittags kam er wieder raus. Und das an vier Wochenenden. Seither gilt er als vorbestraft.

[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Ein schwuler Bekannter bei der Sittenpolizei warnte ihn: Du gehst nicht raus heute. Da wusste ich ganz genau, dass Razzien geplant sind.[/perfectpullquote]
Berufliche Konsequenzen hatte die Verurteilung für Schmehling, der 45 Jahre als Tischler arbeitete, glücklicherweise nicht; auch hielt seine Familie zu ihm. Als er volljährig war, zog er nach Berlin. Ärger mit der Polizei hatte er nie wieder. Er hatte eine Zeitlang einen schwulen Bekannten bei der Sittenpolizei. „Wenn wir telefoniert haben, hat er dann manchmal gesagt: Du gehst nicht raus heute. Da wusste ich ganz genau, dass wieder Razzien geplant sind.“

Schmehlings Vater aber hatte berufliche Nachteile aufgrund der Vorstrafe seines Sohnes. Er ist lange nicht befördert worden, hat sich dann der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zugewandt, die schließlich helfen konnte: Aus dem Dienst ist der Vater als Rektor geschieden.

Georg Härpfer ist Jurist, gehört dem Vorstand der Schwulenberatung Berlin an, und auch beim noch relativ jungen Interessenverband Schwuler Senioren sitzt er im Vorstand. Seit 20 Jahren setzt er sich für eine Rehabilitierung ein. Auch er hat die 1. Lesung im Bundestag aufmerksam verfolgt und sich über die Unionsvertreter geärgert, über Stephan Harbarth und Sabine Sütterlin-Waack (beide CDU) und Gudrun Zollner (CSU).

[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““] Man hat in der Bundesrepublik nach dem Krieg ein Gesetz aus der Nazizeit unreflektiert übernommen.   [/perfectpullquote]

„Es hat mich sehr gestört, dass sie meinen, man könne nicht sagen, dass es Unrechtsurteile waren, weil die Urteile rechtsstaatlich gefällt worden seien. Das bestreite ich, da man in der Bundesrepublik nach dem Krieg ein Gesetz aus der Nazizeit unreflektiert übernommen hat.“

Mit Strafentschädigungsgesetz 25 EUR pro Tag in Haft

Der Gesetzentwurf sieht eine finanzielle Entschädigung der Opfer vor, einen Pauschalbetrag von 3.000 Euro und weitere 1.500 Euro für jedes angefangene Jahr „erlittener Freiheitsentziehung“. Die Vertreter von BISS hätten sich eine höhere Entschädigung gewünscht. Sie hatten im Vorfeld dafür plädiert, dass zumindest das Strafentschädigungsgesetz für die Opfer des §175 angewandt würde. Bei 25 EUR pro Tag in Haft wären das bis zu 9.000 EUR, so Härpfer. „Wir wissen, dass das Geld nicht entschädigt, was erlitten wurde, aber es würde bedeuten, dass es keine weitere Diskriminierung gibt.“

[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Es hieß, wir könnten froh sein, dass wir die CDU/CSU so weit bewegt hätten, dass sie die Rehabilitierung überhaupt mitmachen.[/perfectpullquote]
Sie haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass da noch was zu machen ist. Aber immerhin: BISS-Vorstandsmitglied Reinhard Klenke erinnert daran, dass es in der überfraktionellen Arbeitsgruppe zunächst hieß, eine Entschädigung dürfe gar kein Thema werden. „Wir könnten froh sein, sagte man uns, dass wir die CDU/CSU so weit bewegt hätten, dass sie die Rehabilitierung überhaupt mitmachen. Wenn Ihr das Thema Entschädigung ansprecht, hieß es, könnt Ihr das ganze Verfahren stören oder sogar unmöglich machen. Wir haben aber deutlich gemacht, dass auch eine Entschädigung damit verbunden sein muss.“

Auch Bundesländer haben verurteilte Schwule aus dem öffentlichen Dienst entlassen

Wenn das Gesetz verabschiedet wird, hoffentlich noch vor der Sommerpause, will die BISS im nächstes Jahr weiterkämpfen, dann geht es um das Thema Härtefallfonds. Schließlich hätten auch die Bundesländer als Arbeitgeber verurteilte Schwule aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Die Größenordnung ist noch unbekannt, das werde gerade aufgearbeitet.

Und noch ein Punkt müsse nachverhandelt werden, so Klenke. Zwar würden im Bundesjustizministerium eigens fünf neue Stellen eingerichtet. Aber wenn jemand seine Rehabilitierung beantragen will, werde er vermutlich nicht zu staatlichen Stellen gehen, sondern sich eher an Einrichtungen der Community wenden, zu denen er Vertrauen hat. Es brauche daher Supportstrukturen.

„Wir merken in der Zeitzeugenarbeit, dass viele Menschen traumatisiert sind. Wenn das Thema Verurteilung angegangen wird, dann brechen ja wieder alte Wunden auf. Man kann Menschen damit nicht allein lassen. Da müssen wir eine Begleitung schaffen. Bislang sehen wir noch nicht, dass man in der Politik damit ernsthaft umgeht.“

[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Ich bin leider nicht mehr gesund und hoffe, dass ich es noch erleben werde.[/perfectpullquote]
Fritz Schmehling, der seine Geschichte dem Archiv der anderen Erinnerungen der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld zur Verfügung gestellt und sich anlässlich des 20. Jahrestages der Streichung des §175 im Jahr 1994 in der ARD-Sendung „Brisant“ äußerte, hofft, dass noch mehr Betroffene es wagen, ihre Geschichte zu erzählen. „Sonst haben sie von der Rehabilitierung und der Entschädigung selber nichts.“ Ihm selbst geht es vor allem darum, dass sein Urteil aufgehoben wird. „Ich bin leider nicht mehr gesund und hoffe, dass ich es noch erleben werde.“ 60 Jahre nach seiner Verhaftung ist eine Rehabilitierung in greifbarer Nähe. Daran geglaubt, dass das irgendwann möglich sein könnte, hat er nicht. Andererseits: „Wer hat denn auch daran geglaubt, dass die Mauer irgendwann fällt?“

Das Geld – nach jetzigem Stand kann er mit einer Entschädigung von 3.000 bis 4.500 Euro rechnen – will er einer Stiftung zukommen lassen.


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