in

LGBT-Delegation: Das perfekte Ende in Salt Lake City

Zum Abschluss unserer Reise flogen wir von der US-amerikanischen Ostküste in den «Wilden Westen». Letzter Stopp war Salt Lake City im Bundesstaat Utah. Die «Mormonenstadt» war vor dreizehn Jahren Austragungsort der Olympischen Winterspiele und liegt vor einer berauschenden Naturkulisse: Im Hintergrund der Skyline erstreckt sich die Wasachkette, ein Gebirgszug der Rocky Mountains, und in unmittelbarer Nähe zur Stadt liegt der Grosse Salzsee, der dem Ort auch seinen Namen verlieh.

Mehr über IVLP und die Schweizer LGBT-Delegation liest du hier.

Eine Kellnerin im Hotel beschrieb die Stadt wie folgt: «Salt Lake ist wunderschön, ruhig und praktisch frei von Kriminalität – aber auch etwas langweilig.» Gelangweilt waren wir während unseres dreitägigen Aufenthalts keine Sekunde lang. Dafür hatte Sarah Bell vom «Utah Council for Citizen Diplomacy» gesorgt und uns ein abwechslungsreiches Programm zusammengestellt. An dieser Stelle: Besten Dank dafür!


Das erste schwule Ehepaar
Gleich nach unserer Ankunft ging es los. Wir spazierten vom Hotel zum nahegelegenen Utah Pride Center, wo ein moderiertes Gespräch mit Michael Ferguson und Seth Anderson stattfand. Die beiden jungen Männer waren das erste gleichgeschlechtliche Paar, das im Bundestaat Utah verheiratet wurde. Zudem war Michael Ferguson Hauptkläger in einem Prozess gegen JONAH («Jews Offering New Alternatives for Healing»), ein Unternehmen, deren «Life Coaches» sogenannte Umpolungstherapien anbieten. Michael und Seth berichteten offen und ehrlich aus ihren Leben. Sie erzählten, wie es war, als schwule Mormonen aufzuwachsen und von den inneren Kämpfen, die sie durchlitten. Und schliesslich rechneten die beiden auch mit den schädlichen und sinnlosen Umpolungstherapien ab.

Treffen mit Seth und Michael - dem ersten verheirateten gleichgeschlechtlichen Paar im Staate Utah (2. und 3. von Rechts).
Treffen mit Seth und Michael – dem ersten verheirateten gleichgeschlechtlichen Paar im Staate Utah (2. und 3. von Rechts).

Eine Frage der Überzeugung
Am nächsten Morgen durften wir Michael Weinholtz treffen, den Vorstandsvorsitzenden von «CHG Healthcare Services». Mit über 1’700 Angestellten ist CHG einer der grössten Gesundheitspersonalvermittler in den USA. Bei unserem Gespräch lernten wir Michael Weinholtz als ausgesprochen freundlichen, besonnen Mann kennen. Er und seine Frau Donna sind seit Jahren offene und einflussreiche Befürworter der Gleichstellung von Lesben, Transpersonen, Schwulen und Bisexuellen im konservativen Utah. «Wir haben uns schon immer für die Förderung von Bürgerrechten stark gemacht», erklärte Weinholtz. Die LGBT-Bewegung sei die Bürgerrechtsbewegung der Gegenwart. Die Beweggründe der beiden, sich für die Community einzusetzen, rühren nicht etwa daher, dass sie Verwandte oder Kinder hätten, die LGBT sind. Ihre Motivation entstammt ganz einfach einer tiefen, persönlichen Überzeugung: «Es ist nichts als richtig, für diese Sache einzustehen», sagte Michael Weinholtz. Er sagte dies mit einer Selbstverständlichkeit, die uns beeindruckte und bewegte. Schön, dass die LGBT-Bewegung in Utah auf solch starke heterosexuelle Verbündete zählen kann.

Bewegende Schilderungen
Nach dem Gespräch mit Michael Weinholtz trafen wir Russ Gorringe. Er ist Direktor der «Utah Pride Interfaith Coalition», einer Gruppierung verschiedenster Religionsgemeinschaften. Ihr gehören unter anderem Muslime, Juden, Christen, Mormonen oder Buddhisten an. Die Organisation veranstaltet glaubensübergreifende Gottesdienste, wobei sie explizit auch LGBT-Personen willkommen heisst und unterstützt.


[quote align=’right‘]«Viele schwule Mormonen werden depressiv, suchen Zuflucht in Alkohol und Drogen»[/quote]Russ Gorringe erzählte uns viel von seiner persönlichen Geschichte. Er wuchs als Mormone auf, versuchte, seine gleichgeschlechtliche Orientierung zu unterdrücken. Er war mit einer Frau verheiratet, die zu Beginn der Ehe noch nichts von seiner Homosexualität wusste. Die beiden haben vier Kinder zusammen. Russ war unglücklich, besuchte jahrelang Umpolungstherapien. «Irgendwann realisierte ich aber, dass dies nichts bringen würde», sagte er. Natürlich sei das nicht nur bei ihm so: Er habe tausende von Männern getroffen, die immer wieder versucht hätten, «heterosexuell zu werden.» Bei keinem einzigen habe es funktioniert. «Viele von diesen Männern werden depressiv, suchen Zuflucht in Alkohol und Drogen», erzählte Russ. Auch seine psychische Gesundheit litt. Er war überzeugt, dass Selbstmord die einzige Lösung für seine Situation war. Während einer Bergwanderung mit seiner Familie liess er sich vor der Überquerung einer Brücke absichtlich etwas zurückfallen – mit der Absicht, sich in den Abgrund zu stürzen. Er sei schon am Geländer der Brücke gestanden, da habe sich seine Tochter umgedreht, sei zu ihm zurückgerannt und habe ihn umarmt. «Sie hat mich gerettet», sagte Russ. «Meine 14-jährige Tochter musste mit ansehen, wie sich ihr Vater das Leben nehmen wollte.»

Es waren erschütternde Schilderungen. Zu sehen, wie sehr dieser Mann leiden musste, tat weh. Gerade auch insofern, als nach wie vor zu viele LBGT-Menschen psychische Schmerzen zu ertragen haben, weil sie sich von ihrem Umfeld nicht angenommen und verstossen fühlen. «Aber auch meine Frau litt», schilderte Russ. Nach 25 Jahren Ehe habe sie ihn angeschaut und zu ihm gesagt: «Weisst du was? Das ist nicht fair. Weder für dich, noch für mich.» Die beiden liessen sich scheiden. Es sei die wohl einvernehmlichste und friedlichste Scheidung aller Zeiten gewesen, sagte Russ lachend und heiterte damit die Stimmung wieder auf. «Wir sind heute noch beste Freunde.» Russ fand schliesslich sein Liebesglück: Seit zehn Jahren ist er mit seinem Ehemann Joe zusammen.

Alles andere als christlich
Russ Gorringe sprach bei unserem Treffen auch über jene Kirchen und Glaubensgemeinschaften, die Homosexualität verteufeln und sich zur Rechtfertigung ihrer ablehnenden Haltung auf die Bibel berufen. «Jesus hat sich nie zum Thema der sogenannten Sünden geäussert», sagte Russ. «Zu Themen wie Akzeptanz, Ungerechtigkeit oder Gewalt hatte er hingegen sehr viel zu sagen.» Er ist überzeugt, dass sowohl die Katholische Kirche als auch die Mormonenkirche ihre Einstellungen längerfristig ändern müssen: «Sie stehen mit ihren Ansichten und Überzeugungen zunehmend alleine da.»

Unterstützung von Eltern und Freunden
Danach trafen wir Lynette Kocherhans, die Präsidentin der Salt Lake City-Fraktion von «Parents, Families and Friends of Lesbians and Gays», kurz PFLAG. Diese Organisation operiert landesweit und zählt über 200’000 Mitglieder. Bei diesen handelt es sich um Eltern, Familienmitglieder oder Freunde von LGBT-Menschen. Sie setzen sich unter anderem für die Gleichstellung sowie die psychische und physische Gesundheit von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transpersonen ein. «Uns geht es darum, andere Eltern und Verwandte zu unterstützen, die Öffentlichkeit zu informieren und die Rechte unserer LGBT-Verwandten und –Freunde zu fördern», erklärte Lynette Kocherhans.

Wichtiger Austausch
Als Mutter eines schwulen Sohnes hatte sie vor Jahren selbst das Bedürfnis, mit anderen Eltern in einen Erfahrungsaustausch zu treten. Für viele Eltern von LGBT-Kindern seien solche Begegnungen sehr wichtig, erzählte Lynette. Dementsprechend oft würden sie um Rat ersucht. «Dabei geschieht es immer wieder, dass die Eltern zuerst nur E-Mails schreiben», sagte Lynette. Einige bräuchten Zeit, bis sie persönlich zu den Treffen erscheinen. «Auch Väter und Mütter machen ein Coming-out durch. Dabei hat jeder und jede sein eigenes Tempo.» Bezüglich neuer Anfragen hat Lynette Kocherhans in den letzten Monaten einen bemerkenswerten Trend festgestellt: «Es wenden sich immer mehr Väter und Mütter von Transkindern an uns», sagte sie. Seit Februar erhielt PFLAG-Salt Lake City neun Anrufe und E-Mails, die Transkinder betrafen.

Des Weiteren merkte Lynette Kocherhans, dass sie sich auch aktiv für die Rechte und die Besserstellung von LGBT-Personen einsetzen wollte. «Uns geht es vor allem darum, sichtbar zu werden.» Deshalb besuchen sie und andere PFLAG-Mitglieder möglichst viele Veranstaltungen und Events, an denen sie jeweils ihren eigenen Stand aufstellen. «Wir repräsentieren die Organisation zum Beispiel auf Bauernmärkten, Schulanlässen oder Messen», sagte Lynette. «So können wir mit unseren Anliegen viele Menschen erreichen.»

Mit Troy Williams bei Equality Utah.
Mit Troy Williams bei Equality Utah.

Moderne Mormonen
«Last, but not least!» Dies galt auch für das letzte Treffen an jenem Donnerstagnachmittag, das uns allen in ganz spezieller Erinnerung bleiben wird. Wir wurden von den «Mormons Building Bridges» eingeladen – einer Gruppierung von Mormonen, die sich für die Akzeptanz von LGBT-Personen innerhalb der Mormonengemeinde engagieren. Im Gespräch erzählte uns Gründerin Erika Munson, wie das Ganze vor drei Jahren begann. Ihre Kinder – keines davon schwul, lesbisch, bi oder trans – hatten sie mehrmals auf das LGBT-Thema angesprochen. Sie wollten wissen, warum die Mormonen oftmals negativ gegenüber Homosexuellen eingestellt seien. In diesem Moment habe sie realisiert, dass sie ihnen keine befriedigende Antwort geben konnte. «Ich wusste nicht, was ich sagen sollte».

Zahlreiche Beteiligte
Daraufhin habe sie eine E-Mail an 25 ihrer Freundinnen und Freunde geschrieben und gefragt, ob sie nicht gemeinsam an der «Utah Pride» mitmarschieren sollten. Einerseits, um Unterstützung für LGBT-Menschen zu zeigen. Andererseits wollte sie demonstrieren, dass es auch tolerante und offene Mormonen gibt. Und dann die grosse Überraschung: «Nach einer Woche hatten sich über 300 Personen bei mir gemeldet – sie alle teilten mir mit, dass sie bei der Pride-Parade in Salt Lake City mitmachen wollten.» So kam es, dass mehrere hundert Mormonen den Pride-Marsch 2012 eröffneten. «Es war ein unglaublich emotionaler Tag», sagte Erika Munson. «Viele von uns gingen zu den begeistert klatschenden Zuschauern hin und umarmten sie. Wir kannten diese Menschen nicht. Aber wir alle weinten zusammen, vor Glück und Überwältigung. Und viele der Anwesenden dankten uns für das Zeichen, das wir setzten.»

Tiefe Emotionen
Während Erika Munson diese Geschichte erzählte, hatten nicht nur die meisten der anwesenden Mormonen Tränen in den Augen, auch wir waren zutiefst gerührt. Es mag kitschig klingen, aber es war unbeschreiblich schön zu sehen, wie sich Menschen und ihre Einstellungen ändern können. Wie sich die Erkenntnis durchsetzen kann, dass es für Ausgrenzung und Ungleichbehandlung keinen guten Grund gibt. «Zu viele Familien werden auseinandergerissen, weil ein Kind lesbisch, trans, schwul oder bi ist – und wofür!?», sinnierte Lisa Warburton, eine der «Mormons Building Bridges» und Mutter einer lesbischen und einer queeren Tochter. «Meine Kinder sind meine Kinder und ich liebe sie so, wie sie sind. Liebe und Toleranz, nur das zählt.»

Dieses Treffen war der perfekte Abschluss eines ereignisreichen, emotionalen Tages in Salt Lake City. Er bestärkte uns einerseits in unserer Überzeugung, dass positive Veränderungen und Fortschritt sehr wohl möglich sind. Andererseits zeigte er auf, dass Unterstützung auch von unerwarteter Seite kommen kann.

Salt Lake: Ziemlich gay!
Auch am nächsten Tag erwartete uns bei der Organisation «Equality Utah» ein äusserst spannendes Treffen. Direktor Troy Williams empfing uns zum Gespräch und berichtete uns von seiner Arbeit. Im Bundesstaat Utah sind rund 80 Prozent der gesetzgebenden Kongressabgeordneten Republikaner und Mormonen. Das macht die Förderung der LGBT-Bewegung nicht immer ganz einfach. Umso überraschter waren wir, als wir erfuhren, dass Salt Lake City trotz der konservativen Legislative und einer starken religiösen Prägung ziemlich queer ist. So sei Salt Lake die Stadt mit den meisten gleichgeschlechtlichen Elternpaaren in den USA, erzählte Troy. Und pro Kopf sei der Bevölkerungsanteil von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transpersonen in Salt Lake City höher als in Gay-Mekkas wie Manhattan oder Los Angeles. «Ich weiss nicht, wieso, aber Mormonen scheinen viele LGBT-Kinder zu gebären», scherzte Troy Williams.

Markus Stehle, Maria von Känel, Delphine Roux und Renato Pfeffer reisen nach dem IVLP wieder zurück in die Schweiz.
Markus Stehle, Maria von Känel, Delphine Roux und Renato Pfeffer reisen nach dem IVLP wieder zurück in die Schweiz.

Der Einfluss des «Big Business»
Er berichtete uns auch von den Fortschritten, die über die letzten Jahre kontinuierlich erzielt wurden. Eine wichtige Rolle habe dabei die Wirtschaft gespielt. «Führende amerikanische Firmen haben in einem offenen Brief ihre Unterstützung der LGBT-Bewegung in Utah kundgetan», erklärte Troy Williams. Dies habe dem Gesetzgeber eines klar gemacht: Die Gesetze im Staat müssen liberaler werden. «Für finanzstarke Unternehmen wäre Utah sonst zu einem unattraktiven Niederlassungsort verkommen». Viele Firmen hätten die Wichtigkeit einer LGBT-freundlichen Arbeitsumgebung in den letzten Jahren erkannt, sagte Troy. Potentielle Arbeitnehmer seien immer weniger dazu bereit, an Orte zu ziehen, die homophob erscheinen. Das erhöhe den Druck auf die Legislative, entsprechende Regelungen zu erlassen.

Sich kennenlernen – von Mensch zu Mensch
Troy Williams erzählte auch von den vielen Unterhaltungen, die «Equality Utah» und einige verbündete Kongressmitglieder mit der Mormonenkirche und konservativen Politikern geführt haben. Am Anfang seien diese Treffen unangenehm gewesen. «Das Klima war eisig. Niemand wagte sich aus der Defensiven.» Mit der Zeit habe sich die Gesprächskultur aber verbessert. «Wir lernten uns persönlich besser kennen», sagte Troy, «von Mensch zu Mensch». So kam es, dass beispielsweise Fotografien entstanden und in der Zeitung erschienen, auf der Troy Williams die Hand eines Kirchenführers schüttelte. Solche Bilder hätten eine grosse Signalwirkung gehabt und sozusagen einen «Kulturkrieg» beendet. «Sie trugen eine zentrale Botschaft hinaus: Lasst uns zusammenarbeiten, statt zu kämpfen.»

Trotz allem: Spass haben!
Troy Williams wies noch auf einen weiteren Punkt hin: Für ihn sei es wichtig, stets die richtige Einstellung zu bewahren – gerade auch, wenn man Rückschläge hinnehmen müsse: «Wir haben Recht mit unseren Anliegen. Wir haben Recht und wir werden nie aufhören, dafür zu kämpfen.» Und schliesslich dürfe man bei alledem eines nicht vergessen: «Egal was passiert, man muss immer auch Spass haben. Und tanzen!»

Ab in die Berge, ab nach Hause
Am Samstag, am letzten Tag vor unserer Abreise, war Erholung angesagt. Wir fuhren in die nahegelegenen Berge und wanderten zu einem wunderschönen Bergsee. Die Bewegung, die frische Luft, die Blumenwiesen und das Panorama taten gut. Es war der perfekte Abschluss zweier intensiven, unglaublich spannenden und bereichernden Wochen, die wir im Rahmen des IVLP in den USA verbringen durften. Die vielen Begegnungen und Gespräche mit amerikanischen Gleichgesinnten haben uns mit vielen Inputs und frischen Ideen versorgt, die bei der Durchsetzung der Anliegen der Schweizer LGBT-Community hilfreich sein werden.

An dieser Stelle möchten wir uns noch einmal herzlich bei allen bedanken, die diese Reise möglich gemacht haben!


Israel: Tausende protestieren Hassverbrechen

Bischof von St. Gallen: «Sexualität ist ein Geschenk Gottes»